Liebe, Tod und Rum in Krisenzeiten

Thomas Webers Kabirinett in Großhöchberg hat sich nicht nur etabliert, sondern ist im Lauf der Jahre zu einer festen kulturellen Institution mit ganz eigenem Charme herangewachsen: Vom Geheimtipp zum Kult. Stefan Hiss eröffnete jetzt das erste Sandkastenfestspiele-Open-Air in Großhöchberg.

Liebe, Tod und Rum in Krisenzeiten

Beim ersten der neuen Sandkastenfestspiele im Kabirinett zu Gast: Stefan Hiss . „Endlich wieder echte Musik“, freuen sich die Besucher. Foto: J. Fiedler

Von Marina Heidrich

SPIEGELBERG. Der Theatermensch mit Herz und Seele hätte sich auf das zwanzigjährige Bestehen des Betriebs von Thomas Weber im Mai 2020 so richtig freuen können – wäre ihm da nicht das Schicksal in Form eines winzigen kugelförmigen Organismus grob dazwischen gegrätscht.

Eines muss man den Kulturschaffenden in Coronazeiten lassen: Es werden ungeahnte kreative Energien freigesetzt. Da geht es zwar auch um die eigene wirtschaftliche Existenz, doch zusätzlich treffen vonseiten der Künstler auch das Bedürfnis nach Auftritten als Lebenselixier und aufseiten des Publikums der Hunger nach seelischer, kultureller und emotionaler Nahrung aufeinander.

Daher rief Thomas Weber für den Sommer 2020 die „Sandkastenfestspiele“ ins Leben. Vorsichtig und unter Einhaltung der gegebenen Verordnungen und geltenden Sicherheitsbestimmungen tastet sich das Kabirinett wieder an die praktische Ausübung und das Zelebrieren von Kultur heran. Weber schöpft aus seinem im Laufe der Jahre gewachsenen Pool an Künstlern, die oft zu Freunden geworden sind.

Den Anfang macht Stefan Hiss. Am Samstag treffen bei perfektem Wetter schon früh die Gäste und Hiss-Fans im gemütlichen Biergarten in Großhöchberg ein. Beim Open Air herrscht keine Maskenpflicht, man kann durchatmen. Mit allen Sinnen genießen. Die Tischgarnituren unter den Apfelbäumen stehen mit großzügigem Abstand. Ein Ehepaar mittleren Alters aus Löwenstein ist zum ersten Mal hier, sie kennen den kleinen Ort nur vom Wandern, freuen sich aber riesig darauf, Stefan Hiss live zu erleben: „Endlich wieder echte Musik.“ Ein Satz, der an diesem Abend noch zigmal fallen wird. Wer je daran zweifelte, dass Kunst systemrelevant ist, sollte dringend an so einer Veranstaltung teilnehmen. Maria-Anna (28) ist extra aus Stuttgart angereist: „Ich habe dieses Livefeeling so vermisst.“ Es herrscht freudig-relaxte Urlaubsstimmung.

Dann betritt Stefan Hiss die Bühne. Solo, ohne Band, bestreitet er den Abend. Nur ein Mann, seine unverwechselbare Stimme und das cremefarbene Beltuna-Akkordeon. In einem seiner Lieder heißt es, er habe festgestellt, „dass keiner so wie ich die Polka spielt“. Ein Satz, der zutreffender nicht sein könnte. Hiss ist ein Tastenkünstler, der mit einer scheinbaren Leichtigkeit sein Instrument nicht nur beherrscht, sondern eine geradezu innige, intime Beziehung dazu aufbaut. Als Frontmann seiner gleichnamigen Band verkörpert er eine Mischung aus Zigeunerbaron, Piratenkapitän, desillusioniertem Zirkusdirektor, Frauenliebling und einem winzigen Hauch Zuhälter. Stefan Hiss solo ist eher der Hobo, der einsame Wanderer und lonely rider. „Ich hatte einige Zeit, um das heutige Konzert vorzubereiten – vier Monate“, begrüßt er mit seinem knochentrockenen Humor das Publikum. Mit stoischer Miene macht er seine schwarz-ironischen Ansagen, wenn er von Liebe, Tod und Rum singt. Nur aus der Nähe kann man dieses gewisse, leicht amüsierte Funkeln in den Augen des Sängers erkennen. Dass Stefan Hiss sich viele tiefgründige Gedanken zur aktuellen Lage gemacht hat, spricht er abseits der Bühne aus. Auch er hat wie viele seiner Kollegen die eigenartige Atmosphäre eines Livestreams erlebt: zwei Kameras und fünf Personen in einer Halle, die für 1200 Zuschauer ausgelegt ist. Und keine Möglichkeit, die Reaktion oder gar Anzahl des Publikums an den Computern zu Hause zeitnah wahrzunehmen.

Eine Chance, das eigene Leben und Schwerpunkt zu überdenken.

Ein befremdliches Gefühl für Künstler, die auf die Interaktion mit dem Publikum angewiesen sind. Doch wie viele sieht auch Stefan Hiss in diesen Krisenzeiten eine gewisse Chance – das eigene Leben und die Schwerpunkte zu überdenken, andere, neue, kreative Wege zu finden. In der Kulturbranche wird man darum nicht herumkommen.

Dieser Herausforderung hat sich auch Thomas Weber gestellt. Zwar sollen alle abgesagten Veranstaltungen nachgeholt werden, doch mit dem Sandkastenfestival tun sich auch neue Möglichkeiten auf. Und das bei freiem Eintritt, denn gegen Ende der Veranstaltung geht der Hut herum, und die Gäste legen eine freiwillige Spende hinein. Weber freut sich, dass sich überhaupt so viele Künstler zur gagenfreien Teilnahme an der Veranstaltungsreihe bereit erklärt haben. „Es ist toll, dass sich die Kollegen so darauf einlassen. Viele sind dem Haus verbunden, wir kennen sie seit Jahren“, strahlt der Theater-Chef. „Wir sind froh.“ Dann werden seine dunklen Augen ernst. „Und sehr dankbar“, fügt er leise hinzu.