Melancholie und sprühende Lebensfreude

Frauenterzett „Dreierlei“ präsentiert Klezmermusik in der evangelischen Sankt-Agatha-Kirche in Unterweissach

Der 9. November 1938 – wegen der zerbrochenen Schaufensterscheiben zynischerweise als Reichskristallnacht bezeichnet – markierte den Übergang von der bloßen Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung in Nazideutschland zu deren systematischer Verfolgung und Vernichtung. Alljährlich organisiert die AG Christlicher Kirchen im Weissacher Tal eine Gedenkveranstaltung. Dieses Jahr mit Klezmermusik.

Melancholie und sprühende Lebensfreude

Klezmerkonzert mit dem Frauenterzett „Dreierlei“: Die beiden Musikerinnen Elke Knötzele (Akkordeon) und Irene Zantow-Bareiß (Violine und Viola) musizieren virtuos, die ausgebildete Sprecherin Kerstin Müller rezitiert Texte ausgewählter Autoren und singt. Foto: A. Becher

Von Ute Gruber

BACKNANG. Vor dem Altar der kleinen Dorfkirche, der heute mit einem kleinen siebenarmigen Leuchter geschmückt ist, sitzt eine Frau mit ihrem Akkordeon und spielt ein traditionelles, jiddisches Stück. Schwermütige, getragene Passagen wechseln sich ab mit lebhaft-hüpfenden, schnellen Läufen, die dennoch Melancholie verströmen. Plötzlich antwortet wie aus einer anderen Sphäre eine unsichtbare Violine, nimmt virtuos die sich wiederholenden, jubelnden Läufe auf, dann die wehmütigen Phrasen der Melodie. Die Zuhörer in den voll besetzten Kirchenbänken sitzen mittendrin im Klangraum.

Sprecherin Kerstin Müller rezitiert im Wechsel mit der Musik dem Anlass angemessen keine lustigen Anekdoten oder jüdischen Witze, wie sie das Frauenterzett aus Rudersberg sonst in seinem Klezmerprogramm hat, sondern Besinnliches: „Stiller Owend, dunkelgold, ich sitz beim Gläsl Wein. Was ist geworden von meim Dag?“, fragt Itzig Manger, der fahrende Sänger aus Warschau, dessen Welt und ihre Sprache – das Jiddische, diese glorreiche Promenadenmischung aus europäischen Sprachen – durch die Vernichtung der osteuropäischen Judenheit unwiederbringlich verloren gingen. „Gehat hob ich a Hejm“, beschreibt den Verlust Mordechai Gebirtigs, der 1942 im Krakauer Getto erschossen wurde, „a Nest, genommen in ein Dag.“ Für welche Sünde er damit bestraft wurde, fragt er sich. Aber die Antwort auf die Frage nach dem Warum hat in diesem düsteren Teil der Geschichte nicht viel mit deren Opfern zu tun. Dann schreitet Irene Zantow-Bareiß unter den Klängen ihrer Violine von der Empore herab und gesellt sich zu Elke Knötzele am Akkordeon. Dreierlei, diese einmalige Kombination aus traditioneller Folkmusik und passender Lyrik fand sich vor 15 Jahren zusammen; „aus Liebe zur Musik“, wie die gelernte Sprecherin Kerstin Müller erzählt, die auch mit sonorem Alt einige Lieder singt. Und stellt fest, dass dies im Falle der jiddischen Klezmermusik, dieser turbulenten Tanzmusik der jüdischen Dorfkapellen in Osteuropa, „heute schon fast ein politisches Statement ist“.

Melancholisch ist diese Musik bei aller sprühender Lebensfreude irgendwie immer ein bisschen. Mit ihren orientalisch schleifend-langgezogenen Tönen, den dahinschmelzenden, seufzenden Violinen- oder Klarinettensoli, die die Klezmorim, die fahrenden Musikanten, von den Zigeunern übernommen haben. Heimatlosigkeit, Geldmangel werden oft thematisiert. Das Leben der Juden war nach ihrer Vertreibung aus Palästina wohl nie ganz einfach. Der Holocaust fügte dazu allerdings noch eine ganz andere Dimension des Leidens hinzu. So hatte das Terzett Dreierlei keine Mühe, passende Stücke und Texte zu finden. Auch wenn der jüdischstämmige, deutsche Philosoph Theodor W. Adorno 1949 befand, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, haben viele mittelbar oder unmittelbar Betroffene des Holocaust sich die seelische Not in Form von berührenden Gedichten oder Liedern von der Seele geschrieben. Vor allem Frauen scheinen durch diese Ausdrucksform Erleichterung gefunden zu haben. Einige wurden dafür mit Preisen ausgezeichnet, wie die jüdische, deutsch-schwedische Schriftstellerin und Lyrikerin Nelly Sachs 1966 mit dem Nobelpreis für Literatur. Ihr, deren innigster Wunsch zu sterben, ohne ermordet zu werden, 1970 in Erfüllung gegangen ist, ist es gelungen, das Grauen von Auschwitz mit ergreifender Stärke in Versform zu packen. Weltberühmt wurde das Lied „Donna, donna“ von Aaron Zeitlin mit der Parabel des gefesselten Schlachtkälbchens, dem die Freiheit der Schwalbe nicht vergönnt ist, durch die englische Übersetzung und Interpretation von Joan Baez und Donovan.

„Ja-so-ja, ja-so-ja, ja-so-ja“ ahmt lautmalerisch Wislawa Symborska das Rattern der plombierten Eisenbahnwaggons nach, in denen „Namen durch das Land“ fahren, Aaron, Isaak, Sara. „Für sie steckt der Unterschied von schlecht und recht im Namen.“ – „Spring noch nicht!“ macht die polnische Lyrikerin im vielleicht berührendsten Text des Abends den deportierten Insassen Hoffnung auf Rettung. Und es gibt sie noch: In einem mondänen Graubündner Urlaubsort habe sie vergangenen Sommer unverhofft orthodoxe, Jiddisch sprechende Familien getroffen, erzählt die Dreierlei-Musikerin Elke Knötzele: „Die kommen aus der ganzen Welt dort zusammen.“