Menschen sind durch ihre Spuren präsent

Die Galerie der Stadt Backnang zeigt bis 12. September Arbeiten der Leipziger Künstlerin Ricarda Roggan. Unter dem Titel „Fotografie, Fluchten, Kino“ erwarten den Besucher Inszenierungen, die Ruhe ausstrahlen und gleichzeitig voller Magie sind.

Menschen sind durch ihre Spuren präsent

Bekannt geworden ist Ricarda Roggan in den vergangenen Jahren mit Serien von Fotografien, in denen sie Gegenstandstypen des Alltags oder Landschaften in den Fokus nimmt. Fotos: A. Becher

Von Annette Hohnerlein

BACKNANG. Menschen findet man keine auf Ricarda Roggans Fotografien. Und doch sind sie präsent durch die Spuren, die sie auf den Dingen hinterlassen haben. Und diese Dinge sind es, die die Fotografin aus Leipzig interessieren, diese Dinge fängt sie mit ihrer Kamera ein. Wobei „einfangen“ nicht der richtige Ausdruck ist. Einfangen, das klingt nach Schnappschuss, nach Spontaneität. Und Roggans Arbeiten sind nicht spontan, sondern akribisch vorbereitet.

In der Serie „Stuhl, Tisch und Bett“ setzt sie in die Jahre gekommene Möbel in Szene. Den ruhigen Hintergrund dafür fand sie in einem kleinen Raum in einer Baumwollspinnerei in Leipzig, in der sie ihr Atelier hatte. Wie war das Leben der Arbeiter, die auf diesen abgewetzten grünen Polsterstühlen gesessen und an dem Tisch mit der Wachstuchdecke ihr Pausenbrot gegessen haben? Und wie ging es dem Obdachlosen, dessen Lager Roggan nachgebaut hat: eine schmuddelige Matratze am Boden, darauf ein durchgelegenes Kissen, ein Tisch, zwei Stühle? Es war für die Künstlerin nicht immer angenehm, diese Dinge, denen sehr viel Menschliches anhaftet, zu arrangieren. „Das war etwas eklig, ich habe mit Handschuhen gearbeitet“, erzählt Ricarda Roggan bei einer Vorbesichtigung der Ausstellung in der Backnanger Galerie. Dabei geht es ihr nicht nur um den Bezug zwischen Menschen und Dingen; „Wichtig ist mir auch der Kontext der Möbel untereinander. Die haben jahrelang zusammen gestanden.“

Zum Teil wirken die abgebildeten Gegenstände selbst wie Lebewesen, zum Beispiel in der Serie von zwei Bildern, die Roggan ihre romantischste Arbeit nennt. Im Kupferstichkabinett in Dresden entstanden die Fotografien von einem roten Ohrensessel, der dem Maler und Zeichner Josef Hegenbarth gehörte. Das Möbel hat deutliche Gebrauchsspuren, der Stoff ist verblichen und an vielen Stellen abgewetzt, dennoch strahlt er eine gewisse Würde aus. Im Bild daneben derselbe Sessel, aber mit einer gemusterten Decke locker bedeckt. Offenbar wollte Johanna Hegenbarth, die Witwe, nach dem Tod ihres Mannes den Sessel nicht so lassen, wie er war, ihn aber auch nicht wegschmeißen.

Auch die Serie „Reset“ verweist auf Menschen, die nicht mehr da sind. Roggan erlag dem Charme alter ausrangierter Videospielautomaten, mit denen sich die Benutzer als Rennfahrer versuchen konnten; vor etwa 20 Jahren muss das gewesen sein. Die Fotografin fand die Geräte in einem ausgebrannten Café in Nikosia auf Zypern. Spannungsreiche Kompositionen, harte Kontraste und leuchtende Farbakzente machen die Faszination dieser Arbeiten aus.

In ihrem ersten Beruf war Ricarda Roggan Filmvorführerin. Kein Wunder also, dass sie bei einem Sammler von alten Projektoren Motive für ihre Bilder fand. Da sie ausschließlich das Licht nutzen wollte, das die Projektoren selbst ausstrahlen, arbeitete sie mit Spiegeln und vorgespannter Gaze, um die Szene nach ihren Vorstellungen auszuleuchten. Zum Teil waren 20 bis 30 Minuten Belichtungszeit nötig. Das Ergebnis ist eine erstaunliche „Wiedergeburt“. Die Geräte, die früher ihren Dienst stets im Hintergrund taten, stehen nun auf einmal selbst im Rampenlicht und präsentieren sich wie Filmstars auf dem roten Teppich.

Ricarda Roggan arbeitet ausschließlich analog, mit einer großen Kamera, einem Stativ und einem Tuch über dem Kopf. Die nachträgliche Bildbearbeitung beschränkt sich auf das Hervorheben einzelner Bildpartien durch Aufhellen oder Abdunkeln im Labor. „Mit digitalen Mitteln könnte man es sich leichter machen“, räumt Roggan ein, „aber das interessiert mich dann nicht mehr.“ Dafür ist die Arbeit im Vorfeld umso intensiver. Für eine Serie von Dachbodenbildern („Attika“) sprach Roggan zunächst bei vielen Hausverwaltern vor, ließ sich Dachböden zeigen und befand schließlich etwa fünf Prozent davon als geeignet. Dann räumte sie Gerümpel beiseite, putzte und übermalte Vogelkleckse, um den Raum ruhiger zu machen. Und sie hängte Fenster zu und brachte Spiegel und Folien an, um das Licht nach ihren Vorstellungen zu lenken. „Da ist viel handwerkliche Arbeit dabei“, erzählt Roggan und bekennt: „Das macht mir unheimlich viel Freude“. Heraus kamen dunkle, geheimnisvolle Kompositionen mit malerisch verfremdeten Strukturen aus Holz und Ziegeln.

Geheimnisvoll und von magischer Anziehungskraft sind auch die Arbeiten aus der Serie „Baumstücke“. Wald ist darauf zu sehen, nichts weiter. Kein Vogel, kein Stein, kein Stück Himmel. Fast bedrohlich wirken die Kaskaden von Blättern, die sich im Dunkel verlieren und den Betrachter wie in einem Sog anzuziehen scheinen. Zusätzlich zu den Bildern sind in der Ausstellung zwei Videosequenzen im Stil eines Fotoarchivs zu sehen, die die Künstlerin mit eigenen Texten unterlegt hat.

Ricarda Roggan wurde 1972 in Dresden geboren; sie lebt und arbeitet in Leipzig. Nach dem Studium der Fotografie in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Timm Rautert studierte sie in London am Royal College of Art. Seit 2013 ist sie Professorin für Fotografie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart.

Menschen sind durch ihre Spuren präsent

Fotografie (Ausschnitt) aus der Serie „Attika“.

Vernissage ist heute Abend

Die Ausstellung „Fotografie, Fluchten, Kino“ in der Galerie der Stadt Backnang, Petrus-Jacobi-Weg 1, ist ab heute, 17 Uhr, geöffnet. Die Künstlerin und Galerieleiter Martin Schick sind anwesend. Ab 20 Uhr finden die Eröffnungsreden im Freien auf dem Markgrafenhof statt. Die Begrüßung erfolgt durch den Backnanger Oberbürgermeister Maximilian Friedrich, Martin Schick führt in die Ausstellung ein. Es gelten die Abstandsregeln, die Kontaktdaten der Besucher werden erfasst.

Die Galerie ist von Dienstag bis Freitag von 17 bis 19 Uhr sowie Samstag und Sonntag von 14 bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Der Besuch der Ausstellung ist nur mit Mund-Nasen-Schutz gestattet, der Mindestabstand von 1,50 Metern zu anderen Personen ist einzuhalten. Die Anzahl der Besucher ist begrenzt, deshalb kann es zu Wartezeiten kommen. Die Ausstellung dauert bis zum 12. September.