Murrhardter Klavierakademie: Wenn sich Noten in Musik verwandeln

„Spielen ist wie Kochen, es kommt auf die richtigen Zutaten an“, sagt Christian A. Pohl. Der neue Leiter der Klavierakademie in Murrhardt kann im Unterricht auf einen großen Schatz an didaktischem Wissen zurückgreifen. Sein Markenzeichen: die besondere Wertschätzung des Gegenübers.

Murrhardter Klavierakademie: Wenn sich Noten in Musik verwandeln

Christian A. Pohl (rechts) bespricht mit Otis Prescott-Mason im Kulturhaus Klosterhof, einem der Unterrichtsorte, auch physische Aspekte beim Klavierspiel, das heißt beispielsweise aufzustehen und gemeinsam die körperlichen Punkte auszumachen, an denen sich die Anspannung besonders bemerkbar machen kann. Fotos: Jörg Fiedler

Von Christine Schick

Murrhardt. Der Auftrag ist relativ klar: Die Pianistin oder der Pianist spielt, die Professorin oder der Professor analysiert und gibt Tipps, sich zu verbessern. Angesichts von anspruchsvollen Kompositionen und dem, was zwischen Lehrendem und Lernendem sowie Künstlerin oder Künstler und Instrument passiert, ist das aber eine komplizierte Sache, bei der viel Übersetzungs- und Kommunikationsarbeit sowie pädagogisches Gespür notwendig sind. Es gibt nicht nur viele Ebenen, auf denen sich das Spiel in einem Meisterkurs anschauen lässt, sondern Veränderungsvorschläge müssen auch verstanden werden und beim anderen ankommen, damit sie sich gut umsetzen lassen. Dies ist das besondere Anliegen von Christian A. Pohl.

Wer den Unterricht des neuen Leiters der Internationalen Klavierakademie in Murrhardt besucht, kann eine gute Idee davon bekommen, was das konkret bedeutet. An diesem Morgen macht Otis Prescott-Mason den Anfang. Der junge Neuseeländer hat Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 28 op. 101 A-Dur im Gepäck, die er schon seit etwa einem Jahr spielt, sprich sehr gut kennt. „Was brauchen, was wünschen Sie sich von mir?“, erkundigt sich Christian A. Pohl vor dem Start bei seinem Schüler. „Eine neue, unverbrauchte Einschätzung“, sagt der und setzt sich an den Flügel. Sein Spiel beginnt mit einem lyrisch-suchenden Dahinschreiten, erzählt, erkundet Melodien, Formen und Elemente und nimmt im Verlauf verschiedene emotionale Wendungen. Pohl sitzt auf einem der Publikumsstühle, die Partitur vor sich auf einem Bistrotisch. Kurz blickt er auf die Noten, dann schaut er wieder zu Otis PrescottMason, beobachtet seinen Schüler und sein Spiel, manchmal schließt er auch die Augen, um sich ganz in die Musik zu vertiefen.

Welche Anregungen gibt man im Meisterkurs mit?

Nach einiger Zeit gibt er ihm das Signal, zu stoppen: „Vielen Dank, dass Sie uns an einem Dienstagmorgen in die Welt von Beethoven mitgenommen haben.“ Er lobt Otis Prescott-Masons Gespür fürs Tempo und bestätigt ihm eine besondere Verbindung zum Stück. Für ihn als Dozent sei immer die Frage, was an Anregungen er bei einem Meisterkurs, sprich: in sehr kurzer Zeit geben kann. In diesem Fall möchte er mit einem allgemeineren Feedback dem Pianisten ermöglichen, seinen Blick und seine Wahrnehmung zu öffnen. Wofür? Der Professor, der Klavier an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig unterrichtet, will auf das hinaus, was er als die Schönheit des Klangs beschreibt.

Dieser „Beauty of Sound“ wird er beim Hören einer geliebten Sopranstimme gewahr oder, wie es mal ein Freund ausgedrückt habe, wenn er beim Konzertbesuch eben nicht über die Interpretation nachdenkt, sondern sich einfach ganz der Musik hingibt. Sein zweiter Punkt: Solch einem Klang – und zwar wie man ihn als Pianistin und Pianist ganz genau haben möchte – beim Üben und Spielen auf der Spur zu bleiben ist kein leichtes Unterfangen. Dahinter steht ein komplexer, spannender Kreislauf: Beim Spielen wandert die Idee zum Musikpart von den Fingern in die Tasten und der Klang zurück zum Ohr, sodass danach wieder beurteilt werden kann, ob einem das Ergebnis gefällt. „All das geschieht innerhalb von Sekunden, das ist schon ein Wunder“, stellt Pohl fest. Wer aber schon lange an einem Stück arbeitet bewege sich gedanklich oft schon in der Zukunft und sei beim nächsten Schritt, eben weil er die Musik in- und auswendig kenne und sich nicht mehr in der direkten Wahrnehmung übe. „Es geht darum, den Fokus stärker auf den Moment zu legen, die Musik genau zu spüren, wenn sie zurückkommt.“ Ein weiterer Aspekt: Pohl meldet dem jungen Mann eine relativ starke Anspannung beim Spielen zurück. Die beiden einigen sich darauf, dass die vor allem vom Wunsch herrührt, sich auszudrücken und dem Werk eine Stimme zu verleihen. Was ist da alles körperlich involviert? Schulter, Rücken, Arme, Ellenbogen und Handgelenke, Kopf, Kiefer, das ganze Gesicht, aber auch die Atmung spielt eine wichtige Rolle, tragen die beiden zusammen. Der Akademieleiter möchte, dass Otis Prescott-Mason sich vornimmt, bei jeder Note mit Blick auf diese neuralgischen Punkte eine Art körperlichen Reset zu trainieren, um in ein freie(re)s Spiel zu finden.

Nicht die Noten, sondern die Musik gespielt

Dann wechselt er auf die Ebene der Komposition, um am Kontrast zweier Stimmungen zu arbeiten, die er als Dunkelheit und strahlendes Licht beschreibt. Dabei werden auch technische Möglichkeiten ausgelotet. Mal bittet er seinen Schüler, den Anschlag der Tasten so leise und zart wie nur irgend möglich zu realisieren, mal mit Crescendo und Pedaleinsatz zu experimentieren – ohne „Hemmungen, uns zu schockieren, das Chaos ins Publikum zu tragen“, bevor dann wieder der Frieden aufscheine. Pohl meldet seinem Schüler anerkennend zurück, dass er nicht die Noten, sondern die Musik gespielt habe und es dabei ähnlich wie beim Kochen auf die richtigen Zutaten ankomme. Auch bei Dilay Develi aus Istanbul lässt sich miterleben, wie empathisch und differenziert der Musikpädagoge vorgeht. Die Pianistin präsentiert Präludium und Fuge Nr. 12 von Johannes Sebastian Bach. Nachdem Christian A. Pohl vom mittlerweile etwas gewachsenen Publikum einen Applaus erbeten hat („Sie haben mich die Masterclass vergessen lassen, fantastisch gespielt“), arbeitet er mit der jungen Türkin am mal stärker instrumental, mal stärker gesanglich ausgerichteten Charakter einzelner Stellen des Werks. Nicht einfacher wird die Sache dadurch, dass die linke und rechte Hand jeweils unterschiedliche Stimmungen beziehungsweise Charakterrollen zu übernehmen haben. Also singt er einzelne Parts, um das verdeutlichen zu können. „Ich mache das oft, meine Finger können so von meiner Stimme lernen. Dazu braucht man das Klavier nicht unbedingt“, sagt er und schlägt Dilay Develi vor, es im Alltag ruhig auch mal auszuprobieren.

Pianisten sind im „Lernflow“

Schließlich vertieft sich der Musikpädagoge mit der Pianistin noch in einige Details. An einer Stelle möchte er, dass sie die Stimmen, die aus verschiedenen Richtungen kommen, noch mehr für sich sprechen lässt und so leise und zart wie möglich spielt. An einem anderen Abschnitt legt er das Augenmerk auf einen Übergang und beschreibt ihn mit einem Bild: „Die Textur wechselt hier von einem vielschichtigen Part ähnlich wie eine dickflüssige Cremesuppe in eine große Transparenz wie Wasser“, sagt er. Dilay Develi verkaufe die Cremesuppe allerdings als Wasser. Noch. Auch daran kann die junge Pianistin arbeiten – an den Übergängen und Veränderungen der Bewegungen. Die ist völlig überrascht, als Christian A. Pohl ihr sagen muss, dass die Unterrichtsstunde zu Ende ist. Das nennt man wohl „im Lernflow sein“.