Ohne Charles Aznavour wäre der Chanson um eine herrlich kratzige Stimme ärmer. Wie hart sich das Flüchtlingskind seinen Weg zum Ruhm erschuftete, erzählt das Biopic „Monsieur Aznavour“.
Tahar Rahim spielt im Film den verehrten Workaholic Charles Aznavour
Von Kathrin Horster
Die Kunst ist ein „Nice to Have“, das man sich leistet wie ein Luxusgut. Mal ist sie willkommen und in Mode, mal nicht so wichtig, sogar lästig. So ähnlich betrachten gegenwärtige Gesellschaften auch fremde Einwanderer; in guten Zeiten als nützliche Arbeitskräfte und alltägliche Helden, die man auf Bühnen und im Kino beklatscht, in schlechteren als kostspieliges soziales Risiko, das man lieber an andere Küsten delegiert. Charles Aznavour, 1924 unter dem Namen Shahnourh Vaghinag Aznavourian im Pariser Künstlerviertel Quartier Latin geboren, hat am eigenen Leib diese Perspektive sowohl auf die Kunst als auch auf die Migranten erfahren. In den frühen Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hangeln sich die Aznavourians am Existenzminimum durchs Leben mit zwei Kindern, schildern Mehdi Idir und Fabien Marsaud alias Grand Corps Malade in ihrem Biopic „Monsieur Aznavour“.
Die Eltern kamen als Flüchtlinge ins Land, in die Eröffnung des Films einmontierte historische Szenen illustrieren den türkischen Völkermord an den Armeniern von 1915, zeigen Vertreibung, Elend und Hunger. Von den Altersspuren auf dem Material abgesehen unterscheiden sich die Bilder nicht von aktuellen Kriegsszenen. Die Eltern bleiben trotz des erlittenen Leids und der Ablehnung in Frankreich optimistisch. In der kleinen Kneipe des Vaters (Hovnatan Avédikian) gehen Künstler ein und aus, rauschende Partys werden gefeiert, und obwohl die Kinder wenig zu essen bekommen, weil ihr musikalisch begabter Ernährer freigiebig seine Freunde verköstigt, sehen diese Tage im Film vergleichsweise lustig aus. Für ein paar Francs gibt Charles (als Kind: Norvan Avedissian) im französischen Theater sogar das rassistische Klischee eines Afrikaners und entwickelt ab da den Wunsch, auf der Bühne zu stehen, sich zu präsentieren.
In fünf Kapiteln, überschrieben mit den Titeln fünf ikonischer Songs aus Aznavours über tausend Chansons umfassenden Katalog, umreißen Mehdi Idir und der französische Singer-Songwriter Grand Corps Malade den großen Lebensbogen des Chansonniers bis zu dessen Tod 2018 mit 94 Jahren.
Von der prekären Kindheit im Quartier Latin springt das Autoren- und Regie-Duo in Charles’ Erwachsenenleben während der Zeit der deutschen Besatzung. Charles (nun: Tahar Rahim) kommt mit der Résistance in Kontakt und lernt seine erste Frau, die Sängerin Micheline Rugel (Ella Pellegrini), kennen. Mit seinem Freund Pierre Roche (Bastien Bouillon) tritt er während des Krieges im Varieté zwischen den Nummern der Burlesque-Tänzerinnen auf, erst als Komponist, später als Sänger, wobei man ihm beständig sagt, er habe eine Stimme wie ein Reibeisen.
Und obwohl Charles Aznavour auch nicht als Schönheit gilt und sich später sogar auf Anraten seiner berühmten Mentorin Edith Piaf (Marie-Julie Baup) die Nase richten lassen wird, kommt er bei Frauen an.
Anhand dieser Eckpunkte könnten sich Grand Corps Malade und Mehdi Idir auf die saftigen Skandale dieses Künstlerlebens stürzen, ihren Protagonisten als Ich-bezogenen Schürzenjäger und Karrierehengst zeichnen, der von Auftritt zu Auftritt und von Bett zu Bett hechtet. Stattdessen erzählt das Duo im freundlich sachlichen Plauderton reiner Chronisten, wie Charles Frau und Kind bei seinen Eltern zurücklässt, um mit Pierre in Kanada groß heraus zu kommen, mit der Idee im Hinterkopf, beide nachkommen zu lassen, sich dabei aber immer mehr von der Rolle des Ehemannes und Vaters entfremdet.
Wie Edith Piaf, im Film eine herzlich rüpelnde Egoistin, ist Aznavour bald besessen von seiner Bühnenpersona. Seine Lieder handeln hauptsächlich von romantischer Liebe, in der Realität schrubbt er Texte im Akkord herunter, um im Geschäft zu bleiben. Dass sich Aznavours unehelicher Sohn Patrick als junger Mann das Leben nimmt, kommt im Film zwar vor, wird von Mehdi Idir und Grand Corps Malade aber nicht dem Vater als dessen unmittelbare Verantwortung angekreidet.
Charles Aznavour erscheint im Film als rastloser Mensch, der selbst dann noch jeden Tag einen Chanson schreibt, als schon sämtliche Familienmitglieder und Freunde mit Villen und Autos versorgt sind. Die Macher des Films sprechen diese Vermutung zwar nicht aus, doch sie liegt nahe: Charles Aznavour entwickelte sich zu einem Workaholic im steten Bemühen, den Makel des Einwandererkindes los zu werden und von der französischen Gesellschaft angenommen zu werden. Kunst muss man sich leisten können – auch derjenige, der sie herstellt. Um ein international anerkannter Künstler zu werden, den seine Fans bis heute verehren, hat Monsieur Aznavour einen hohen Preis bezahlt.
Monsieur Aznavour. Frankreich, Belgien 2024. Regie: Mehdi Idir, Grand Corps Malade. Mit Tahar Rahim, Marie-Julie Baup. 133 Minuten. Ohne Altersbeschränkung.
Info
Macher Mehdi Idir, genannt Minos, geboren 1979 in der Pariser Vorstadt Saint-Dénis, kam als Hip-Hop-Tänzer zum Film: Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung im Videoschnitt und filmte Hip-Hop-Battles. Ein Demo-Video für eine bekannte Gruppe ermöglichte ihm, seine erste Doku für den französischen TV-Sender TF1 zu drehen. 2006 lernt er den französischen Poetry-Slammer, Rapper und Regisseur Grand Corps Malade (deutsch: Großer Kranker Körper) kennen – der Name ist eine Anspielung auf die Größe des Künstlers und dessen Gehbehinderung.
Idol Charles Aznavour hat über 1000 Chansons gesungen, 200 Millionen Platten verkauft und in ca. 70 Filmen gespielt. Ihm wurden neun Orden, fünf Ehrenbürgerschaften und zwei Preise verliehen. Er hatte drei Ehen und sechs Kinder. 2018 starb er an einem Herzstillstand.