Beim Filmfestival in Locarno gingen wichtige Preise an Produktionen, die von deutschen Filmemachern mitrealisiert wurden. Den Hauptpreis gewann ein Werk über die Einsamkeit.
Sho Miyake ist der Gewinner des Goldenen Leoparden.
Von Patrick Heidmann
Gegründet vor fast 80 Jahren gehört das Locarno Film Festival zu den ältesten und renommiertesten Veranstaltungen dieser Art. Dem Ruf, sich dabei noch ein wenig mehr als die anderen Filmfestivals der Kino-Kunst – mutig bis sperrig, anspruchsvoll und abseits von Kommerz und Mainstream – verschrieben zu haben, wurde man im Tessin dabei in diesem Jahr einmal mehr gerecht.
Nach zehn Festivaltagen ging der Goldene Leopard an den Film „Tabi to Hibi (Two Seasons, Two Strangers)“ des Japaners Sho Miyake, der schon 2012 mit seinem Debüt in Locarno vertreten und zuletzt meist bei der Berlinale zu Gast war. Basierend auf dem Manga „Mr. Ben and his Igloo, A View of the Seaside“ erzählt der Regisseur zwei ganz unterschiedliche Geschichten über die Begegnung zwei Fremder: Im Sommerurlaub an der Küste lernt eine Frau einen schüchternen jungen Mann kennen, der dort auf den Spuren seiner Kindheit wandelt; später bricht eine Drehbuchautorin in der Schaffenskrise in die Berge auf, wo sie bei einem recht grummeligen Einzelgänger unterkommt. Ein zarter, bittersüßer und von eleganten Landschaftsaufnahmen durchzogener Film über Einsamkeit und den Alltag einfacher Menschen, den in seiner Unaufgeregtheit eine andere Jury vielleicht übersehen hätte.
Manch am Lago Maggiore hoch gehandelter Film wurde am Ende vom kambodschanischen Filmemacher Rithy Panh und seinen Mitjurorinnen und -juroren (darunter auch die Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi) nicht ausgezeichnet. Ein Preis für den vermeintlich unstrukturierten Dokumentarfilm „With Hasan in Gaza“ von Kamal Aljafari, der mit verloren geglaubten Video-Aufnahmen aus dem Jahr 2001 vom Alltag in Gaza erzählt, wäre ohne Frage als politisches Statement gewertet worden, aber auch künstlerisch verdient gewesen. Radu Judes „Dracula“, eine ungestüm-chaotische und mitunter herrlich komische Annäherung des rumänischen Regisseurs an den legendären Vampir-Mythos, war in seiner von KI-Clips befeuerten Mischung aus abgründiger Gesellschaftskritik und albernem Humor eigentlich auch einen Preis wert.
Auch „Sehnsucht in Sangerhausen“ ging leer aus, obwohl man auch dem neuen Film von Julian Radlmaier eine Auszeichnung gegönnt hätte. Thematisch ist der Nürnberger Regisseur gar nicht so weit weg vom Leoparden-Gewinner; auch hier geht es um Menschen, die ihr Alleinsein eher zufällig mit anderen teilen. Nebenbei gelingt ihm allerdings, spürbar inspiriert von sommerlicher Leichtigkeit à la Rohmer und deutschen Alltagsrealitäten gleichermaßen, auch eine sehr humorvolle Geistergeschichte.
Derweil gingen gleich zwei Preise – der Special Jury Prize sowie einer für die beiden Hauptdarsteller – an „White Snail“, eine deutsche Koproduktion des erkennbar vom Experimentalfilm kommenden österreichischen Regie-Duos Elsa Kremser und Levin Peter. Eine besondere Erwähnung gab es für den deutsch-georgischen Beitrag „Dry Leaf“, ein bewusst unscharfes Natur-Roadmovie von Alexandre Koberidze, der aus Tiflis stammt und in Berlin an der DFFB studierte.
Während im Wettbewerb kaum Platz für Hollywood oder große Namen war – sieht man von Vicky Krieps in „Yakushima’s Illusion“ der Japanerin Naomi Kawase ab –, war der Glamour anderswo in Locarno umso präsenter. An mindestens zwei Abenden hatten die Sicherheitskräfte bei den Open-Air-Screenings auf der Piazza Grande Mühe, dem Ansturm der Fans Herr zu werden, gaben sich doch mit Oscar-Gewinnerin Emma Thompson und Action-Legende Jackie Chan zwei Weltstars die Ehre, um Ehrenpreise für ihr Lebenswerk in Empfang zu nehmen.
Chan, der zu den persönlichen Helden des Festivalleiters Giona A. Nazzaro gehört, brachte nicht nur seinen inzwischen 40 Jahre alten Klassiker „Police Story“ mit in die Schweiz, sondern ließ auch in einem begeistert gefeierten, von Kampf-Choreografien und Gesangseinlagen durchzogenen Publikumsgespräch seine Karriere Revue passieren. „Ich war faul, frech und hatte keine Lust zu lernen, deswegen steckte mich mein Vater in ein Martial-Arts-Internat“, erinnerte er sich an seine Anfänge, bevor er, auch durch die Jahre als Stuntman, den großen Durchbruch in Hongkong und den zunächst mühsamen Sprung nach Amerika schaffte. Der Vater war nicht immer sicher, das Richtige getan zu haben: „Als er 60 Jahre alt war, fragte er mich, wie ich mir das Älterwerden in meinem Beruf vorstelle: Wirst du in meinem Alter noch kämpfen können? Damals wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Aber heute bin ich 71 Jahre alt – und kann immer noch kämpfen!“
Teils in finnischem Eis, teils in Studios in NRW gedreht
Einen neuen Film hatte derweil Emma Thompson im Gepäck: das teils im finnischen Eis, teils in nordrhein-westfälischen Studios gedrehte Actiondrama „The Dead of Winter“, koproduziert von der Kölner Produktionsfirma Augenschein, feierte in Locarno seine Weltpremiere. Mehr noch als mit dem Film, in dem die 66-jährige Britin als lebensmüde Witwe, die zufällig in einen winterlichen Entführungsfall verwickelt wird, begeisterte sie bei der Verleihung des Leopard Club Awards das Publikum mit einer Dankesrede in exzellentem Italienisch. Amüsante Anekdoten aus ihrer Laufbahn gab auch sie zum Besten, über ihre Zeit auf Comedy-Bühnen, wo sie Margaret Thatcher mit Herpes verglich, oder jenen Moment, als Donald Trump sie telefonisch nach einem Date fragte.
„Wiedersehen in Howards End“ oder „Eine zauberhafte Nanny“ gehörten zu den Filmen, von denen sie mit besonders viel Stolz berichtete. Besonders verblüfft sie allerdings der Erfolg von „Tatsächlich… Liebe“: „Während des Drehs fragte Hugh Grant mich noch, ob das der irreste Film unseres Lebens sei. Aber bis heute sprechen mich die Menschen in der U-Bahn darauf an, mit Tränen in den Augen!“