Unter der Lupe betrachtet

Die Ausstellung „Eleganz&Poesie“ in der Galerie Stihl zeigt Höhepunkte französischer Meisterschaft im Zeichnen

Das Entsetzen bekommt ein Gesicht. BeiCharles le Bruns Aktzeichnungen mit zwei ineinander verschlungenen, gegeneinander kämpfenden Männern ist es die Figur rechts, die ihren Mund aufgerissen hat. Vom Schmerz verzerrt sind die Augen zu Schlitzen verengt. Ein schreiendes Beispiel aus der akademischen Zeichenkunst in Paris Mitte des 17. Jahrhunderts – es lohnt sich, mit der Lupe ranzugehen, die in der Galerie Stihl Waiblingen bereitgehalten wird.

Unter der Lupe betrachtet

Ausstellungsmacherin Anja Gerdemann vor einer Reproduktion eines berühmten Gemäldes von Jean Antoine Watteau – zu sehen in der Waiblinger Galerie Stihl. Foto: B. Büttner

Von Jörg Nolle

WAIBLINGEN. Eine kunstgeschichtliche Schau sollte Vergleich und Einordnung leisten. „Eleganz&Poesie“, die neue Ausstellung in der Galerie Stihl, die drei Jahrhunderte Zeichnung in Frankreich zeigt und im Wesentlichen vom Hessischen Landesmuseum Darmstadt übernommen wurde, leistet dies schon fast didaktisch gut. Gleich drei Textsorten finden sich über, neben und unter den Zeichnungen. Erstens, darüber, eine Zeitachse, damit wir wissen, wie es mit der Herrschaft bestellt war und in welcher Epoche wir uns befinden. Französischer Manierismus, Barock, Rokoko bis zum schieren Realismus der Aufklärung samt der Kritik an der Herrschaft der Konvention. Das wäre dann das Schlussbild in der Schau. Dort, wo Jean Baptiste Greuze eine Mutter mit entblößter Brust zeigt, die ihr Kind stillt. Das Bürgertum emanzipiert sich. In feudalen Verhältnissen gibt der Adel das Kind ab an die Amme. Neben den Zeichnungen dann der Text und nicht nur ein Titel. Und unten gibt es Verweise auf die verwendeten Zeichenmaterialien.

Das Zeichnen und Malen an der Akademie bildet ein eigenes Kapitel in der Schau. Neben denen zu Zeichnen als Werkprozess, die Technik der Perspektivverkürzung, Landschaften als Genre oder dann die Szene der Sammler. In Waiblingen ebenfalls herausragend vertreten ist der gebürtige Südholländer Jean Antoine Watteau. Künstler-genealogisch der Vater und das Vorbild von so vielen, die ihm folgen. François Boucher etwa oder Jean Honoré Fragonard. Watteau nun, 1684 geboren, dient sich erst in der Werkstatt eines als minderbegabt beschriebenen Malers hoch, geht dann nach Paris, wohnt und arbeitet aber weiter bei Künstlerkollegen. Wird dann indes gerade durch seine Zeichnungen so wichtig, dass die Akademie gar nicht anders kann, als ihn aufzunehmen. Er kann es sich leisten, sich fast fünf Jahre Zeit zu lassen für das geforderte Aufnahmestück. Sein Ruhm setzt schon zu Lebzeiten ein, ohne dass er durch Hof, Kirche oder Akademie protegiert werden muss. Für die Waiblinger Kuratorin Anja Gerdemann ist sein gezeichnetes Werk ebenbürtig mit seinem gemalten.

In Waiblingen großgezogen als Reproduktion finden wir eine ikonografische Szene. Nämlich den Blick, den sehr frei komponierten, in eine Kunstgalerie. Sich selbst hat Watteau mittenrein gesetzt, erkennbar am hellen Lockenschopf. Er ist es demnach, der einer Dame über den Bordstein in den Laden hilft. Das Werk diente kurze Zeit als Reklameschild für die Galerie. Es ist ein schon zu Lebzeiten dermaßen berühmtes Bild, dass sich Zeitgenossen darauf bezogen haben. Und sei’s als Satire. Nebendran hängt die gezeichnete Künstlerkollegen-Antwort. Alle Galeriekunden tragen jetzt Eselköpfe. Ein gerade in Frankreich gern gemachter Übersprung ins Tierische. Nur Blöde kaufen Kunst bei einem Händler.

Mit dem Zeichenbuch unterwegs, um die Welt darin festzuhalten

In Waiblingen aber gibt es Gelegenheit, anhand von drei Watteau-Zeichnungen das Besondere des Meisters zu studieren. Mit oder ohne Lupe. Nehmen wir seine „sieben Schauspieler“, inbegriffen ein musizierender Gnom, darüber eine Studie gefalteter Hände und dann noch das Fragment einer Arabeske in Rötelstift-Rot. Wer sich in antiken Mythen halbwegs auskennt, ist im Vorteil. Bei der Weibsperson links mit dem Zauberstab könnte es sich um Circe handeln. Jene Bezaubernde, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt hat. Oder dann rechts, zum Fürchten das Personal wie die Gerätschaften: Ein Arzt führt einen Diener mit, der wiederum das Klistier wie eine Waffe aufgezogen hat.

Schuf Watteau als einer der Ersten ganz eigenständige Zeichnungen? Oder doch eher Skizzen und Vorstudien für seine Gemälde? Sicher ist, dass er ohne Anlass und Absicht sich mit seinem gebundenen Zeichenbuch aufmachte, die Welt um ihn herum festzuhalten. Und wenn es ihm passte, dann übertrug er doch eine Szene oder eine Figur später in seine Kompositionen in Öl. Es ist seine Allseits-Meisterschaft, die ihn auch heute noch zum Star des französischen Stils macht. Jetzt fällt von seinem Glanz etwas für Waiblingen ab.

Drei Jahrhunderte werden damit verhandelt in 73 Werken von 48 verschiedenen Künstlern. Drei Ziele wiederum verfolgten die Waiblinger Ausstellungsmacherinnen. Es geht ihnen um die Funktion der Zeichnung, um ihren Bedeutungswandel, ob untergeordnet oder als autonomes Werk. Dann sollte das riesige Spektrum der Stile aufgezeigt werden, von der ornamenthaften Feinstzeichnung aus dem Jahr 1540 bis hin zum fast fotorealistischen „Bauernhaus am Abgrund“-Werk von Jean-Jaques Boissieu. Und drittens geht es ihnen um die Themen der Epochen Manierismus, Barock und Rokoko bis hin zum Klassizismus mit seiner realistischen Tendenz. Biblische Darstellungen spielen fast keine Rolle mehr, das Leben eines erwachten Bürgertums bietet mehr. Der Mehrwert für den Betrachter stellt sich nahezu gesichert ein. Wobei eines für die Kuratorin Gerdemann auch klar ist: „Die Ausstellung ist komplex, und man muss sich drauf einlassen. Man muss sich Zeit nehmen, um genau hinzugucken.“ Schauen mit der inneren und äußeren Lupe.

Die Ausstellung wird am heutigen Freitag, 11. Oktober, 18 Uhr in der benachbarten Kunstschule, Weingärtner Vorstadt 14, eröffnet. Zu sehen ist sie bis zum 6. Januar dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr.