Willkommen in der Starre

Stuttgarter Realitäten zwischen Opernhaus- und Konzerthaus-Debatte, Kunstgebäude-Stillstand und Kulturquartier-Missverständnis

Von Nikolai B. Forstbauer

Wie wird der Wille spürbar und sichtbar, die Rasanz der Veränderungen in der Gegenwart als Impuls für Positionierungen in der Zukunft zu nutzen? Kaum durch jenen Stillstand, in dem das Land Baden-Württemberg und die Metropolregion Stuttgart stecken.

Selten genug sind sich in Stuttgart Kulturschaffende und Stadtwerber einig. Darin aber sehr wohl: Widerwillig nur nimmt man zur Kenntnis, dass Stuttgart im nationalen Kulturstadt-Ranking wiederholt auf Platz eins steht. Für die Kulturmacher ist die quantitativ, sprich an der Vielzahl der Kulturangebote und der immens hohen Nachfrage orientierte Studie des Hamburger Bankhauses ­Berenberg ein Störfaktor, weil sie nicht nach inhaltlichen Qualitäten fragt.

Die Stadt­werber wiederum haben die ­Bedeutung nicht nur der beiden Auto­museen von Mercedes-Benz und Porsche, sondern gerade der Vielfalt hochkarätiger Kulturangebote in der Landeshauptstadt, im Zentrum der Metropolregion Stuttgart, für die Attraktivität des Standorts noch ­immer nicht erkannt.

Geredet wird im Land seit 2011 und seit dem ­Antritt des ersten Kabinetts von Ministerpräsident Winfried Kretschmann viel, in der Stadt seit 2012 und seit der Wahl von Fritz Kuhn zum Oberbürgermeister noch mehr.

Die harten Themen außerhalb der Frage kultureller Impulse für die gesellschaft­liche Vielfalt jedoch sind die ­alten. Vor ­allem in Stuttgart selbst. Ein Film- und Medienhaus bräuchte es, sagt man noch immer. Wozu aber, wenn die Innenstadtkinos Säle für ein klares ­Filmkunstprogramm zur ­Verfügung stellen würden?

Theater vor Ort möchte man. Doch das Theater der Altstadt steht – bei aller Unterschiedlichkeit – nicht weniger vor der Existenzfrage als das ­Theaterhaus.

Strukturelle Unterfinanzierung heißt das schöne Wort, hinter dem sich durch Selbstausbeutung verhüllte Abgründe verbergen.

Der ständig geträllerte Schlager von der Nachhaltigkeit ist mit Blick auf die immer wieder ins Spiel gebrachte spätere Weiternutzung einer möglichen temporären Spielstätte für die Oper Stuttgart und das Stuttgarter Ballett schlicht eine Nebelkerze. 13 bis 15 Millionen Euro im Jahr reine Betriebskosten für eine solche Alles-ist-möglich-Bühne sind nirgends in Sicht.

Ja, Kultur braucht die Politik. Braucht Klarheit – auch in der Absage. Kultur braucht die Politik – aktuell für einen Kassensturz, der Finanzdefizite nicht verschweigt. Weder im Kleinen wie beim (Stadtteil-)Theater der Altstadt, noch im Großen. Die Staatstheater Stuttgart erleben die immer neue Verschiebung von Sanierung und Erweiterung als fortgeschriebene Mängelverwaltung Unhaltbar ist das Einfrieren der Bauunterhaltsmittel von Stadt und Land seit 2013. Nun, da Oper und Ballett das Opernhaus nicht vor 2024 verlassen werden, muss hierüber dringend diskutiert werden.

Ausdrücklich setzen die Verantwortlichen der neu formierten Initiative für den Neubau eines Konzerthauses auf die generationsübergreifende Vermittlung. Von einem Musikzentrum spricht die Initiative denn auch lieber als von einem Konzerthaus. Angestrebt wird ein 24 Stunden offenes Haus im doppelt buchstäblichen Sinn.

Das Echo ist positiv. Umso wichtiger ist die Erinnerung, dass die Sanierung des Opernhauses und die Erweiterung des Staatstheater-Areals wesentlich über die angestrebte Ausweitung der Vermittlungsarbeit am zentralen Innenstadtstandort definiert werden. Wer mal eben einen Neubau des Opernhauses an anderer Stelle ins Spiel bringt, sprengt nicht nur das Werkstättenkonzept für Oper, Schauspiel und Ballett, sondern setzt auch eine Zukunft des Staatstheater-Areals als Zentrum der Vermittlung der Bühnenkünste aufs Spiel.

Ist aber zuletzt das Stichwort Vermittlung vielleicht nur schöner Schein und Streichkandidat? Musste nicht das weltweit erfolgreiche Stuttgarter Ballett erleben, wie in der Finanzierung des Neubaus der John-Cranko-Schule gerade bei Themen wie Vermittlung und Zugänglichkeit gestrichen wurde?

Von der neuen Cranko-Schule aus hat man Stuttgarts Zentrum vor sich – und damit auch das Kulturquartier.

Das Kulturquartier muss nicht erfunden werden, es ist Realität – als umfassendes, dicht mit herausragenden Kultureinrichtungen besetztes Stadtquartier. Von der Staatsgalerie Stuttgart aus führt das große Geviert im Architekturensemble von James Stirling, Michael Wilford und Manuel Schupp weiter zum Kammertheater, zur Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und dem Haus der Geschichte des Landes Baden-Württemberg.

Weiter geht es zum Hauptstaatsarchiv, dem Landesbibliothek-Komplex und dem Stadtpalais. Das Institut für Auslandsbeziehungen mit der Ifa-Galerie und der Lern- und Erinnerungsort Hotel Silber setzen das Geviert am Charlottenplatz fort. Vorbei geht es am Landesmuseum Württemberg (Altes Schloss) zum Kunstmuseum Stuttgart, dann hinüber zur Bolzstraße mit den Kinos der Mertz-Gruppe und der Komödie im ­Marquardt.

Wieder Richtung Süden geht es über das Kunstgebäude hinüber zum Staatstheater-Areal mit Opernhaus und Schauspielhaus, um von dort aus wieder bei der Staatsgalerie mit Altbau, Steib-Bau und Stirling-Neubau zu enden. Mit der Eröffnung des Neubaus der John-Cranko-Schule des Stuttgarter Balletts wird das Kulturquartier in Nord-Süd-Richtung erstmals auch über die Urbanstraße hinausgreifen.

Umso wichtiger ist es, die auf ein Entweder-oder ausgerichteten Debatten um die Bundesstraße 14 neu zu justieren. Ja, die B 14 ist eine Stadtautobahn. Jedoch: Es ist auch nur eine Straße, und sie bietet zwischen Musikhochschule und Kammertheater/Staatsgalerie das ideale Feld, die Straße in der ganzen Breite des als Busparkplatz missbrauchten Platzes ebenerdig zu überqueren. Übergang jetzt – das gilt, wenn man das ­Kulturquartier ernst nimmt.

Übergang jetzt – dies heißt auch Zugang jetzt. Sollen die Bürgerinnen und Bürger der Metropolregion wie die Besucherinnen und Besucher (oder die gerne beschworenen Touristinnen und Touristen) die Faszination Kul­turquartier erleben, teilen, weitergeben, dann braucht es eine erfahrbare Identität. Abgestimmte Öffnungszeiten, gegenseitige Veranstaltungshinweise wie auch gegenseitige Preisreduktionen gehören so dazu wie die klare Positionierung des Kulturquartiers im Auftritt der Landeshauptstadt.

Stolz thront der goldene Hirsch auf der ­Kuppel des Kunstgebäudes am Schlossplatz. Hüter der Geschichte ist er, vor allem Hüter der Geschichten der jeweiligen Gegenwart. Dazu gehörte immer auch die radikale Infragestellung. „Schlachtet den Vater!“ – der Ruf, mit dem der Holzschneider und Maler HAP Grieshaber einst den Maler Walter Stöhrer aufforderte, die den ­gesamten Kuppelsaal durchmessende Bildwelt des Älteren zu durchdringen, malerisch zu verschlingen, erscheint heute jedoch eigentümlich radikal.

Wesentliche Teile des Kunstgebäudes ­dienen dem Staatsministerium des Landes in den kommenden Jahren als Bühne für Empfänge des Ministerpräsidenten. Die Repräsentationsräume im Mitteltrakt des Neuen Schlosses müssen saniert werden. Ohne inhaltliche Konsequenz – die im Sinn der doch angestrebten Wandlung des Erdgeschosses hin zu einem Ort der politischen Bildung logische Öffnung des Neuen Schlosses Richtung Stadtpalais, Landes­bibliothek, Staatsarchiv und Haus der ­Geschichte wird nicht kommen.

Kunstgebäude, das ist ein Versprechen. Auf einen Ort, der sich aus sich selbst heraus ­entwickeln kann, auf einen Ort der Debatte und der Gegensätze. Auf ein Palais de Tokyo, das in Paris mit vehementer Rückendeckung Stuttgarter Konzeptkunst-Überlegungen auf Touren gebracht wurde. Mit einer Doppelstruktur von Württembergischem Kunstverein (WKV) und Landesrepräsentation demnächst beziehungsweise WKV und noch immer erst noch zu definierender und zu ­finanzierender „offenen Struktur“ bleibt das Kunstgebäude ein Muster ohne Wert.

Fraglos prominente Architekturbüros dienen aktuell als Kronzeugen für die Losung „Wer im Themenfeld Kultur neu baut, baut richtig“. Was aber bringt eine neue Verortung, solange – wie vor allem beim Thema Staatstheater-Areal – die aktuell gültige nicht wirklich ernst genommen wird?

Das Land – heftig bemüht, Quantität und Qualität in der Fläche zu halten – und die Stadt zeigen als voneinander unabhängige Inseln der Mutlosen in der Landeshauptstadt selbst wenig mehr als gerne salbungsvoll überdeckte Erstarrungen.

Nur so ist dann auch zu verstehen, dass sich Umnutzungsideen für eine durchaus überschaubare Fläche als „Stadt am Fluss“ hochjubeln ­lassen, das große Real-Nichts zum Thema zwischen Stuttgart-Münster, Stuttgart-Bad Cannstatt und ­Esslingen aber undiskutiert bleibt.

Die Starre kann sich schnell rächen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer spüren, dass die Industrie 4.0 ihre Entwicklungssprünge auch und gerade im Mittleren Neckarraum ohne sie machen kann. Das Verständnis dafür, die lange aufgeschobenen Kulturinvestitionen in den kommenden Jahren zu wagen, dürfte sich in Grenzen halten – mit entsprechenden Folgen.