850 Kilometer quer durch die Pyrenäen

Der 27-jährige Nigel Kevin Lex aus Althütte meistert die Wanderroute Haute Randonnée Pyrénéenne. Im Hochgebirge begegnet dem Wanderer zwei Tage lang kein anderer Mensch. Die Laufschuhe haben unterwegs den Geist aufgegeben.

850 Kilometer quer durch die Pyrenäen

Wer an Nigel Kevin Lex’ Erlebnissen teilhaben möchte, hat auf dessen Instagram-Account nigelnagel.neu die Gelegenheit dazu. Foto: privat

Von Maximilian Grau

ALTHÜTTE. Temperaturunterschiede bis zu 40 Grad, Gipfel über 3000 Meter und zwei Weltmeere: Die Haute Randonnée Pyrénéenne (HRP), eine Wanderroute von der französischen Atlantikküste durch die Pyrenäen bis zur Mittelmeerküste, hat beeindruckende Herausforderungen zu bieten. Diesen hat sich der 27-jährige Nigel Kevin Lex aus Althütte während des Coronasommers gestellt. 850 Kilometer und mehr als 50000 Höhenmeter legte er auf der Haute Randonnée Pyrénéenne in sechs Wochen zu Fuß zurück.

Nigels Begeisterung fürs Tourenwandern hatte ihren Ursprung vor fünf Jahren in Irland. Gemeinsam mit einem Kumpel trampte er bepackt mit einem Rucksack über die Insel und schlief dabei im mitgeschleppten Zelt. Das rastlose Reisen faszinierte ihn sofort. Inspiriert von seiner Mutter wagte er sich später an den „Westweg“ von Pforzheim nach Basel. Zwei Alpenüberquerungen später, von München nach Venedig sowie von Salzburg nach Triest, stand Nigel Anfang dieses Jahres vor der Frage, welche Route er im Sommer bewältigen werde.

Da er sich in den Alpen nun bestens auskannte und Corona die Reiseentfernung stark einschränkte, fiel sein Blick auf die Pyrenäen. Das Hochgebirge, das die iberische Halbinsel vom übrigen Europa trennt. Nachdem er im Internet Bilder und Videos von dort gesehen hatte, war ihm sofort klar: „Da will ich hin!“

Bei der Auswahl seiner Tour hatte Nigel drei Kriterien: Anspruch. Viele Höhenmeter. Wildnis. Also alles, was die Route HRP mitbringt. Die Route verbindet die Atlantikküste mit der Mittelmeerküste Südfrankreichs. Der Fernwanderweg verläuft parallel zum Hauptkamm der Pyrenäen entlang der französisch-spanischen Grenze und durch Andorra.

Als alle Vorkehrungen getroffen waren, machte sich Nigel mit dem Zug auf zum Startpunkt des Fernwanderwegs: Hendaye, eine kleine Stadt an der Atlantikküste im Süden Frankreichs. Von dort aus trat er seine sechswöchige Wanderung in Richtung Osten an. Bevor es losging, stand eine Erfrischung im Atlantik auf dem Programm. Denn es ist Brauch, vor der Tour im Atlantik und nach dem Erreichen des Ziels im Mittelmeer zu schwimmen. Der erste Abschnitt führte durch das sanft ansteigende Baskenland. Bei Temperaturen um die 40 Grad gestaltete sich der Anstieg mühsam. Der Anblick der grünen Hügel, die diese Region kennzeichnen, ließ Nigel die drückende Hitze beinahe vergessen. Die ersehnte Abkühlung ließ nicht lange auf sich warten. Nach wenigen Tagen erreichte Nigel die westlichen Pyrenäen. Tag für Tag geriet er tiefer ins Hochgebirge. Die Landschaft wurde felsiger, das Wetter unbeständiger und die Temperaturen fielen rapide.

„Ohne mein GPS-Gerät hätte ich mich oft verlaufen.“

Nigel war zunehmend auf seine Ausrüstung angewiesen. Wirklich viel hatte er allerdings nicht dabei: Lediglich sechs Kilogramm „Base Weight“ umfasste sein Gepäck, also die Ausrüstung ohne Essen und Trinken. Sechs Kilogramm für eine sechswöchige Reise? „Mich spornt es an, mit dem Minimum das Maximum zu erreichen.“ Mit einem Lächeln erinnert er sich dabei an seine erste Tour zurück: „Bei der Begehung des Westwegs hatte ich 20 Kilo Gepäck dabei. Da habe ich ganz schön gelitten.“ Ein Fehler, der ihm bei seiner Tour in den Pyrenäen nicht mehr unterlaufen durfte. Zwar konnte er mit Sechs-Kilogramm-Gepäck unmöglich alle Bedarfe abdecken: „Im Baskenland gab es zeitweise tagsüber bis zu 38 Grad. Später im Hochgebirge hatte ich dagegen einige Nächte mit unter null Grad. Da habe ich sogar gefroren, wenn ich all meine Klamotten gleichzeitig anhatte“, aber ein wenig zu leiden, gehört bei einem solchen Wildnis-Adventure einfach dazu. Neben den klassischen Wandertourutensilien waren zwei Gegenstände für ihn mitunter am wichtigsten: ein Reiseführer und sein GPS-Gerät.

Mit dem Reiseführer „The Pyrenean Haute Route“ von Tom Martens, der für jeden Tag der Route eine genaue Beschreibung vorsieht, hatte Nigel bereits vor dem Tourstart grob ausgearbeitet, wo und wann er Essen einkaufen würde. Während der Tour half ihm der Ratgeber zusätzlich, immer den nächsten Tag vorzuplanen. So konnte sich Nigel stets sicher sein, genügend Wasser am Tag und einen geeigneten Schlafplatz am Abend zu finden. Da eine solche Route nie ganz nach Plan verläuft, vor allem nicht in den teilweise unerschlossenen Pyrenäen, war ein Gegenstand noch wichtiger: sein GPS-Gerät, auf dem die angepeilte Route im Vorfeld abgespeichert wurde. „Viele Abschnitte der Route sind nicht wirklich gekennzeichnet. Ohne mein GPS-Gerät hätte ich mich oft verlaufen.“

Wie sehr er auf sein GPS-Gerät angewiesen sein würde, bekam er bereits zu spüren, als sich die Zentralpyrenäen noch in sicherer Entfernung befanden. Im „Valle de Belagua“, einem Tal zwischen Lescun (Frankreich) und Refugio de Belagua (Spanien) am westlichen Rand der Zentralpyrenäen, habe es teilweise gar keine Wege gegeben, erklärt Nigel. Komplett von der Außenwelt abgeschnitten gewesen zu sein, sei Fluch und Segen zugleich gewesen: In den verlassenen Tälern des „Valle de Belagua“ offenbarte sich Nigel der Anblick wunderschöner Karstlandschaften, die es weltweit nur in dieser Region zu finden gibt. Unberührte Natur, so weit das Auge reicht. Für Nigel, der schon einige schöne Flecken auf diesem Planeten gesehen hatte, trotzdem ein komplett neues Erlebnis: „Dort habe ich zum ersten Mal die Wildnis so richtig erlebt. Vergleichbares gibt es in Europa kaum noch.“ Fernab von jeglicher Zivilisation konnte er dieses einmalige Erlebnis völlig ungestört genießen. „Zwei Tage lang habe ich dort niemanden angetroffen.“ Aber wird man da nicht verrückt? „Schon ein bisschen. Irgendwann beginnt man, mit den Pflanzen zu reden“, gibt Nigel mit einem Augenzwinkern zu. Blöd, wenn dann auch noch das sonst so zuverlässige Smartphone nutzlos ist: „Einmal hatte ich einige Tage keinen Empfang. Da ich mit meinen Eltern ausgemacht hatte, mich alle zwei Tage zu melden, waren sie in großer Sorge.“

Herrlicher Ausblick vom höchsten Berg der Pyrenäen „Pico Aneto“.

Minder einsam, aber definitiv nicht minder eindrucksvoll war der nächste Streckenabschnitt. Im bekannten „Parc national des Pyrénées“ verbrachte Nigel auf seinem Weg in Richtung Osten ganze zwei Wochen. Ihm leuchten die Augen, wenn er davon spricht, wie er dort frontal auf die „Cirque de Gavarnie“ zuwanderte, eine Gebirgswand mit einem Durchmesser von beinahe zwei Kilometern. „Wie ein monströses Amphitheater“, beschreibt Nigel dessen Anblick.

Den „Parc national des Pyrénées“ hinter sich gelassen, steuerte Nigel nun geradewegs auf den zentralen Teil der Pyrenäen zu: die Hochpyrenäen. Wie der Name es schon vermuten lässt, trifft man hier nicht nur auf schöne Täler und unberührte Natur, sondern auch auf gigantische Gebirgsriesen. Inmitten dieser Riesen ragt ein Berg am höchsten auf: der „Pico Aneto“. Der höchste Berg der Pyrenäen befindet sich auf der spanischen Seite und misst 3404 Meter. Für Nigel wäre es ein Unding gewesen, diesen Riesen nicht zu bezwingen. Um 4.30 Uhr in der Früh brach er mit ein paar Gleichgesinnten auf, um den Gipfel zu erklimmen. Ausgedehnte Geröllfelder, der Gletscher unterhalb des Gipfels und ein beängstigend schmaler Gebirgsgrat im letzten Abschnitt gestalteten den Aufstieg mühsam. Doch die Mühe hat sich gelohnt: „Der Ausblick vom Gipfel war unbeschreiblich“, schwärmt Nigel.

Knapp die Hälfte der Route hatte Nigel nach diesem Highlight hinter sich gebracht. 400 Kilometer Wanderung hatten ihre Spuren hinterlassen – zumindest bei seinen Wanderschuhen, die eigentlich handelsübliche Laufschuhe waren. „Bei einer langen Tour muss der Schuh leicht sein.“ Die Sohle war abgebröckelt. Nigel musste reagieren. Mit einem Paar nigelnagelneuer Laufschuhe an den Füßen machte er sich auf den Weg, den letzten Abschnitt zu bewältigen: den östlichen Part der Pyrenäen. Sein Weg führte durch den 77000-Einwohnerstaat Andorra, dessen Ortschaften insbesondere im Winter einige Touristen anlocken. Da Nigel aber primär auf der Suche nach unberührter Natur war, ließ er die touristischen Ortschaften schnell hinter sich.

Nigel kam seinem Ziel, dem Mittelmeer, nun täglich näher. Eines Morgens erblickte er das Mittelmeer in der Ferne und andererseits, direkt vor der Nase, einen schneebedeckten Gipfel. Spanien hat einiges zu bieten. Sogar Schnee im Sommer.

Die „Badewanne Europas“ vor Augen absolvierte Nigel die letzten Meter in wenigen Tagen. Die dünne, kühle Gebirgsluft wich der mediterranen, warmen Luft des Mittelmeers. Nigel hatte sein Ziel, Banyuls sur Mer (Frankreich), erreicht. Mit einer Flasche Sekt und dem obligatorischen Baden im Mittelmeer wurde die Leistung gebührend gefeiert.

20 Kilometer und mindestens 1000 Höhenmeter pro Tag, und das Ganze sechs Wochen am Stück, ohne Pause. Nigels Tour hatte es in sich. Ob er es wieder machen würde? Definitiv, nur würde er dann die Route andersherum begehen: „Andere Blicke und womöglich weitere Gipfel“ würden sich so ergeben. Doch zuvor möchte er etwas Neues machen: Der Kaukasus, das Gebirge zwischen Europa und Asien, hat sein Interesse geweckt.