„An allen anderen Tagen werden wir leben“

Mutmacher-Geschichten: Renate Schweizer aus Backnang erkrankt 2011 an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Sie will zunächst ohne OP die ihr verbleibende Zeit bewusst erleben. Dann gibt es doch einen Eingriff. Wie durch ein Wunder wird sie wieder gesund.

„An allen anderen Tagen werden wir leben“

Vor knapp zehn Jahren hat Renate Schweizer die Krebsdiagnose bekommen. Heute darf sie sich befreit von Krankheit des Lebens erfreuen. Foto: A. Becher

Von Ingrid Knack

BACKNANG. Renate Schweizer arbeitet im Jahr 2011 als Lehrerin für Altenpflege im Alten- und Pflegeheim Staigacker. In der Zeit zuvor war sie fünf Jahre lang als Krankenschwester im Hospiz in Backnang beschäftigt und studierte dann Pflegepädagogik. Im Staigacker absolviert sie ihr Praxissemester. „Ich bin sozusagen dort geblieben“, sagt sie.

Die Mutter von drei Kindern, alle sind im Alter von Anfang 20, lebt – getrennt von ihrem Ehemann – in einem Haus in Allmersbach im Tal. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Gemeinderätin. Kurz vor ihrem 49. Geburtstag, im Sommer 2011, merkt sie, dass etwas mit ihrem Körper nicht stimmt, und sucht deshalb einen Internisten auf. Was sich dann abspielt, wird sie nie vergessen: „Jede Sekunde davon ist mir total im Gedächtnis.“

Die Untersuchung verläuft dramatisch. „Wenn man etwas Medizinisches unterrichtet, interessiert man sich ja dafür, wie alles vor sich geht“, erzählt Renate Schweizer. Also bittet sie den Arzt, ob er bei der Ultraschalluntersuchung ihres Bauchs den Bildschirm so drehen würde, dass er ihr erklären könne, was er da sieht. „Das hat er dann gemacht. In einem ganz vergnüglichen Gespräch sind wir meine inneren Organe durchgegangen.“ Dann wird der Mediziner aber immer wortkarger und dreht den Bildschirm auch wieder von ihr weg, „weil da Spiegelungen seien“. Nach wenigen Minuten ruft er noch einen zweiten, erfahreneren Kollegen aus der Gemeinschaftspraxis hinzu, der schließlich von einer großen Raumforderung an der Bauchspeicheldrüse spricht. Dies heißt, ob es ein Tumor ist, kann man in dem Moment nicht sagen, aber klar ist: Es gibt etwas, das Raum fordert und hier nicht hingehört. Die nächsten Sekunden schildert Schweizer so: „Der Arzt fragt mich: Wo haben Sie geschafft, im Hospiz? Sie wissen, was eine Raumforderung an dieser Stelle bedeuten kann. Dann hat er mir sehr feierlich die Hand geschüttelt und ging wieder. Der andere Doktor schrieb mir eine Überweisung für den gleichen Tag im Klinikum Stuttgart. Ich glaube, wir waren alle drei ziemlich geschockt.“

Nach der katastrophalen Diagnose legt sie eine Liste der Dinge an, die sie noch erleben will.

In Stuttgart wird eine Biopsie gemacht. Auf das Ergebnis muss Renate Schweizer ein paar Tage warten. „Ich lief über die Flure und habe mir Fotos von der Belegschaft angeschaut, die dort hingen. Eines Tages kam ein mir bis dahin unbekannter Arzt in mein Zimmer. Vom Foto wusste ich, dass es der palliative Oberarzt ist. Er sagte: Das Ergebnis sei da. Ich sagte: Sie sind der palliative Oberarzt, also ist es bösartig. Seine Antwort: Ja, aber palliativ sind Sie noch lange nicht. Da wusste ich, dass ich sterben würde. Ich wusste und er wusste, dass meine Zweijahresüberlebensrate etwa sieben Prozent betrug, eher weniger.“

Während ihrer Zeit im Hospiz hatte Renate Schweizer miterlebt, wie es den Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs erging. Sie sah die vielen Narben am Bauch der Betroffenen, die von den OPs herrührten, die letztlich nicht viel gebracht hatten. „Da habe ich beschlossen, aus dem grob geschätzten Dreivierteljahr, das ich noch hatte, das Beste zu machen. Innerhalb einer Minute war mir klar, dass ich nichts gegen die Krankheit unternehmen würde, sondern die mir verbleibende Zeit gut verbringen wollte.“ Sie will „nicht sinnlos Kräfte verschwenden in einem Kampf, den ich verlieren würde“. Ihr Umgang mit der Situation sieht dagegen so aus: „Ich habe eine Liste der Dinge gemacht, die ich gerne noch täte.“ Sie informiert ihre Kinder, die noch nicht so lange aus dem Haus sind. „Ich hatte das Gefühl, sie sind auf dem Weg in ihr eigenes Leben. Sie kommen auch ohne mich klar. Sie werden trauern, das ist in Ordnung. Sie sind aber nicht mehr darauf angewiesen, eine Mutter zu haben, die für sie sorgt. Dafür war ich sehr dankbar.“ Zudem ist sie überzeugt davon, dass die Frage der Lebenslänge in Relation zu dem gesehen werden muss, was in all den Jahren passiert ist. „Der Sinn des Lebens ist ja nicht von der Lebensdauer abhängig und nicht davon, ob man 48 oder 84 wird. Ich war ganz zufrieden mit allem, so wie es war.“

Es sind die Kinder, die eine Wendung anstoßen. Sie respektieren zwar die Haltung ihrer Mutter. Doch da ist auch der Wunsch, dass diese sich doch in ärztliche Behandlung begibt. Immerhin seien fünf bis sieben Prozent Überlebenschance in zwei Jahren ja nicht nichts. Schweizer denkt sich nun: „Ich will, dass die Kinder gut aus der Nummer rauskommen und das Gefühl haben, ich hätte mir Mühe gegeben. Vielleicht kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen...“

Eine Whipple-Operation will sie keinesfalls über sich ergehen lassen. Neben Teilen der Bauchspeicheldrüse, des Dünndarms und eventuell des Magens können dabei auch etwa die Gallenblase und Gallenwege entnommen werden. „Ich will so lange wie möglich ganz normal essen“, sagt sich die Patientin. Sie willigt nur ein, dass ihr der Primärtumor und sonst nichts, auch nicht aus Sicherheitsgründen umliegendes Gewebe, entfernt wird.

Nach der Operation in Bad Cannstatt ist der Chirurg nach den Worten Schweizers „ziemlich angefressen“ und versichert sinngemäß: So einen Wahnsinn habe er noch nie gemacht. „Dann hat er erklärt, er mache so etwas bestimmt nie mehr und ich werde schon sehen, was ich davon habe. Ich bin nach Hause gegangen, um meine Dinge zu ordnen und dann zu sterben.“ Es ist September 2011. Eine Chemotherapie wird nicht begonnen. Im November 2011 nimmt Schweizer ihre Arbeit im Staigacker wieder auf. Den begonnenen Kurs leitet sie bis zum Ende. In den Monaten danach wandert sie mit einer Freundin in England am Hadrianswall entlang. Sie feiert ein Fest. Sie verkauft ihr Haus, zieht nach Backnang um und muss deshalb ihr Amt als Gemeinderätin in Allmersbach aufgeben.

Das Bonusprogramm folgt einem Konzept: Was macht mich gerade glücklich?

Abgesehen davon, dass das Haus in Allmersbach für sie alleine zu groß ist, möchte sie nicht mehr einen Handwerker rufen, wenn es irgendwo hereinregnet, sondern den Hausbesitzer, der sich darum kümmert. Deshalb bevorzugt sie eine Mietwohnung und lebt mit anderen Frauen in einer Wohngemeinschaft. Sie lässt sich von ihrem Ehemann scheiden, „um in geordneten Verhältnissen zu sterben. Das war sehr versöhnlich unter den Umständen. Es war ein richtig guter Schluss. Es gab nichts mehr, worüber man streiten müsste.“ Alles, was sie auf der Liste hatte, ist nun abgearbeitet.

Ein Jahr nach der Diagnose sagt ihre Hausärztin zu ihr: „Alles, was jetzt noch kommt in Ihrem Leben, ist Bonus.“ Schweizer: „Das war ein gutes Bild zum Weiterleben. Es ist mir ganz oft bewusst, dass ich mitten im Rest meines Lebens und im Bonusprogramm bin.“

Das Bonusprogramm sieht nicht vor, dass sie in Situationen verharrt, in denen sie sich nicht wohlfühlt. „Ich will jetzt glücklich sein. Das ist ein guter Maßstab.“ Was aber heißt das? „Ich habe mehrfach die Arbeitsstelle gewechselt“, so Schweizer. Zwar ist ihr klar: „Man kann nicht nur im Moment leben als Mensch. Ich muss mit einiger Mühe auch langfristig denken, meinen Lebensunterhalt verdienen, den Schornsteinfeger reinlassen und die Steuererklärung machen. Aber ich möchte eine gute Balance haben. Sicherheit ist nicht das Wichtigste.“ Sie arbeitet wieder im Hospiz, nun in der Beratung von Patienten und Angehörigen. Zudem bildet sie dort ehrenamtlich Engagierte aus und ist für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Und sie sagt: „Es war immer unglaublich bewegend für mich, wenn Leute mit Bauchspeicheldrüsenkrebs am Telefon wissen wollten, wie man ins Hospiz kommt. Sie sind alle gestorben. Nicht, weil sie etwas falsch gemacht haben. So wenig wie ich etwas richtig gemacht habe. Mein Überleben war einfach ein Geschenk.“ Wie erklärt sie sich, dass sie die Krankheit überwunden hat? „Normalerweise metastasiert Bauchspeicheldrüsenkrebs, bevor man ihn entdeckt. Das hat meiner aus irgendeinem Grund nicht getan.“ Das Wort Biochemie fällt.

Mittlerweile arbeitet Renate Schweizer nicht mehr im Hospiz, sondern ist freie Mitarbeiterin unserer Zeitung und hat sich in der Erwachsenenbildung selbstständig gemacht. In ihrer Werkstatt über Sterben und Tod geht es darum: „Sterblich sein und leben lernen.“ Doch Corona macht ihr da einen Strich durch die Rechnung. „Sterbebegleitung gibt es zurzeit fast gar nicht mehr. Man stirbt jetzt alleine.“ Renate Schweizer hat noch nie zu denjenigen gehört, die das Thema Sterben und Tod verdrängen. Ganz im Gegenteil: „Sterben war vorher mein Lebensthema und danach ist es dies erst recht. Ich war nicht zufällig im Hospiz. Mit der Angst vor dem Tod ist es wie mit jeder anderen Angst auch: Sie wird kleiner, wenn man sie ins Auge fasst.“

Überdies spricht sie an, was ihr bei Kinobesuchen aufgefallen ist: In vielen Filmen sei Bauchspeicheldrüsenkrebs eine Chiffre für jemanden, der bald stirbt, aber zuvor noch die Welt retten will oder zum Serientäter wird. Und die Backnangerin erzählt von einem Snoopy-Cartoon, in dem eine der Figuren sagt: „Eines Tages werden wir sterben.“ Eine andere Figur erwidert: „Stimmt, aber an allen anderen Tagen werden wir leben.“ Schweizer: „Das ist genau mein Ding.“

In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.