An der Logistik hapert es noch

Seit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der vergangenen Woche die Bevölkerung dazu aufgerufen hat, sich vorsorglich gegen Grippe impfen zu lassen, wird der Grippeimpfstoff vermehrt nachgefragt.

An der Logistik hapert es noch

Ute Ulfert verabreicht in ihrer Praxis in Backnang einem Patienten eine Spritze zur Grippeschutzimpfung. Foto: A. Becher

Von Simone Schneider-Seebeck

BACKNANG/OPPENWEILER. Vielerorts wird der Impfstoff knapp. Dabei wurden in diesem Jahr schon etwa 20 Prozent mehr Impfdosen geordert als im letzten. Denn so einfach ist der gar nicht zu beschaffen. Üblicherweise bestellen Ärzte und Apotheken bis Ende März ihr Kontingent an Impfstoffen. Erst danach wird mit der Herstellung begonnen. Nicht verimpfte Dosen müssen vernichtet werden, denn Grippevirenstämme mutieren schnell und ändern sich dadurch ständig.

Ein gewisses Risiko ist bei der Bestellung immer dabei, jedes Jahr wieder ist es ungewiss, wie viele Menschen sich überhaupt impfen lassen werden. Empfohlen wird sie für bestimmte Personengruppen (siehe Infokasten). Laut Jens Steinat aus Oppenweiler wurden im vergangenen Jahr 14 Millionen Menschen deutschlandweit gegen die Influenza geimpft, in diesem Jahr wurden 17 Millionen Dosen geordert, was zeigt, dass man sich bereits vor über einem halben Jahr darauf eingestellt hat, in diesem Jahr verstärkt zu impfen. Durch den Aufruf des Gesundheitsministers wurde die Grippeschutzimpfung nun früher und auch von mehr Menschen als sonst zu dieser Jahreszeit üblich nachgefragt. In Oppenweiler beispielsweise gibt es seit vier Wochen keine neuen Lieferungen mehr, die nächste wird für Ende Oktober erwartet. „Die Hersteller liefern anhand des Bestelldatums aus und zwar alles auf einmal, es gibt keine Teillieferungen“, erklärt Steinat. Er hat in seiner Praxis eine Nachfragesteigerung von etwa 30 Prozent erfahren. Da die Influenzawelle in Deutschland für gewöhnlich erst nach der Jahreswende beginnt und der Aufbau des Impfschutzes etwa zehn bis 14 Tage dauert, empfiehlt das Robert-Koch-Institut, sich im Oktober oder November impfen zu lassen. Doch auch später, selbst zu Beginn der Saison, sei die Impfung sinnvoll, da die Dauer der Grippewelle nicht vorherzusagen sei. Wobei die Personen, denen eine Impfung empfohlen wird, in diesem Jahr schon etwas früher versorgt wurden, wie Steinat erläutert. Durch Corona habe sich der logistische Aufwand in den Arztpraxen sehr erhöht, man sei dennoch sehr bemüht, eine optimale Versorgung für alle zu gewährleisten. „Ich bin sicher, dass alle Risikopatienten geimpft werden können“, ist der Mediziner zuversichtlich, denn auch er hat seine Bestellung im Vergleich zum Vorjahr erhöht.

Doch wenn die nächste Lieferung kommt, werde es sicher eine große logistische Herausforderung sein, alle Anfragen schnellstmöglich zu erfüllen. Dabei kritisiert der Pandemiebeauftragte des Landkreises Rems-Murr, dass die Auslieferung der Impfstoffe in jedem Jahr mit Schwierigkeiten verbunden sei, die Logistik sollte mittlerweile eigentlich besser und reibungsloser funktionieren.

Viele andere Kollegen im Umkreis haben in weiser Voraussicht ebenfalls ihre Dosenbestellung erhöht. Ute Ulfert aus Backnang geht davon aus, dass durch die verstärkte Nachfrage Extratermine für die Grippeimpfung angeboten werden müssen, um möglichst schnell möglichst viele Personen impfen zu können. Sie empfiehlt die Impfung für den entsprechenden Personenkreis. Die Angst vor schweren Nebenwirkungen könne sie nicht bestätigen. In ihrer Praxis ist noch ausreichend Impfstoff vorhanden, die Bestellungen aus dem Frühjahr sind bereits ausgeliefert worden. Doch ob auch die späteren Bestellungen alle ausgeliefert werden, das könne nicht garantiert werden. So sehen es auch Kollegen sowie die Apotheken im Umkreis. Vielerorts sind die Impfstoffe ausgegangen oder nur noch einzelne Dosen vorhanden, wobei die im Frühjahr bestellten Chargen zum Teil bereits ausgeliefert werden konnten. Wann die nächste Lieferung jedoch kommt, ist oft noch unklar, wird der Darstellung der Impfstoffhersteller widersprochen (siehe Infokasten). Eine Apothekerin gibt zu bedenken: „Was viele nicht wissen – wer nicht zur Risikogruppe gehört und sich dennoch impfen lassen möchte, muss sich seinen Impfstoff selbst in der Apotheke besorgen.“

Gesundheitsminister Spahn hatte zwar explizit dazu aufgerufen, dass sich vor allem Personen, bei denen die Ständige Impfkommission eine Impfung empfiehlt, die Grippeschutzimpfung in Anspruch nehmen sollten. Doch das hat zu einer großen Verunsicherung und somit zu steigender Nachfrage bei der Bevölkerung geführt, wie Ärzte und Apotheker kritisieren. Zudem sei nicht einmal sicher, wie von einer Apothekerin zu hören ist, ob die angekündigten 26 Millionen bestellten Impfdosen überhaupt alle freigegeben werden können. Doch was ist Grippe überhaupt – und wieso ist sie so gefährlich? Landläufig wird jede Erkältung als „Grippe“ bezeichnet. Doch es gibt Unterschiede zwischen einem grippalen Infekt, der durch verschiedene Arten von Viren verursacht wird, und der echten Grippe, die durch das Influenzavirus übertragen wird. Bei Letzterer treten die Beschwerden innerhalb kürzester Zeit auf, verbunden mit hohem Fieber, das auf über 39 Grad ansteigen kann. Schnupfen, eine verstopfte Nase und Halsschmerzen sind keine typischen Symptome für die Influenza, allerdings tritt gern ein trockener und schmerzhafter Husten auf, auch heftige Kopfschmerzen, Muskel- und Gliederschmerzen sind üblich. Innerhalb kurzer Zeit ist man sehr geschwächt.

Die echte Grippe dauert normalerweise zwischen sieben und 14 Tage, es können jedoch Wochen vergehen, bis man sich wieder ganz erholt hat. Gerade diese Schwächung macht die Krankheit so gefährlich. Bei schweren Verläufen kann die Influenza zu Entzündungen von Lunge, Hirnhaut oder Herzmuskeln und sogar zum Tod führen. Bei einem grippalen Infekt sind die Symptome ähnlich, jedoch wesentlich weniger stark ausgeprägt. Die Krankheit entwickelt sich schleichend, Schnupfen, eine verstopfte Nase und trockener sowie verschleimter Husten sind typisch. Nach etwa einer Woche bis neun Tagen ist die Erkältung überstanden. Übrigens: Antibiotika helfen bei Viruserkrankung nicht, denn diese wirken nur bei bakteriellen Infektionen.

Verfügbarkeit und Anwendung der Impfstoffe

Die Bestellung von Grippeimpfstoffen ist für Ärzte und Apotheken immer mit gewissen Risiken verbunden, da diese nur für die
aktuelle Saison verwendet werden können. Rund 24 Euro kostet eine Impfdosis, hat man sich entsprechend verschätzt und zu viel geordert, bleibt man auf den Kosten sitzen. Allerdings wurde für dieses Jahr empfohlen, etwa 20 Prozent mehr anzufordern, als in der vergangenen Saison verimpft worden ist.

Nach Bestellungseingang werden die Impfdosen auf Hühnereiern angezüchtet. Influenzaviren mutieren schnell, zudem gibt es unterschiedliche Grippestämme auf der Nord- sowie der Südhalbkugel. Bis Ende März eines Jahres stellt die WHO die sogenannten „Saatviren“ für die Nordhalbkugel zur Verfügung, üblicherweise vier verschiedene Arten. Zwischen Produktionsstart und Auslieferung vergehen etwa sechs Monate, zudem müssen die hergestellten Impfstoffe vor Verabreichung noch durch das Paul-Ehrlich-Institut freigegeben werden. Die „Saatviren“ werden ebenfalls auf Eiern angezüchtet, die wiederum bereits Monate vorher bestellt werden müssen. Vom Beginn bis zur Auslieferung eines Impfstoffs können daher 12 bis 18 Monate vergehen. Eine kurzfristige Kapazitätserhöhung ist daher schwierig. Zudem beginnt im Herbst die Produktion für die Impfdosen, die auf der Südhalbkugel benötigt werden, wie Glaxo Smith Kline auf Nachfrage erläutert.

Laut dem Impfstoffhersteller konnten bereits 19,1 Millionen Dosen in der Kalenderwoche 41 freigegeben werden, Lieferungen würden regelmäßig, teilweise im Wochenrhythmus erfolgen. Zudem könnten im Oktober und November weitere Dosen bereitgestellt werden. „Da der Grippeimpfstoff über den Großhandel an Zwischenhändler, Apotheken und Ärzte ausgeliefert wird, sind Mengen je Bundesland nicht darstellbar“, erläutert die Pressestelle des Unternehmens.

Die Ständige Impfkommission empfiehlt die Grippeschutzimpfung für folgende Personen:

–ab 60 Jahre

–Schwangere ab dem zweiten Trimenon, bei erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge eines Grundleidens ab erstem Trimenon

–Personen mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge eines Grundleidens

–Bewohner von Alters- oder Pflegeheimen

–Personen, die als mögliche Infektionsquelle im selben Haushalt lebende oder von ihnen betreute Risikopersonen gefährden können

Weiterhin wird die Impfung empfohlen für:

–Personen mit erhöhter Gefährdung (zum Beispiel medizinisches Personal)

–Personen in Einrichtungen mit umfangreichem Publikumsverkehr

–Personen, die als Infektionsquelle für von ihnen betreute Risikopersonen fungieren

–Personen mit direktem Kontakt zu Geflügel und Wildvögeln (die Impfung schützt zwar nicht vor der Vogelgrippe, aber es werden damit problematische Doppelinfektionen vermieden)

Für die 41. Meldewoche wurden an das Robert-Koch-Institut 17 labordiagnostisch bestätigte Influenzafälle übermittelt, für die 42. Meldewoche 13 (Stand 20. Oktober 2020).