Anarchische Züge,organisatorischeMeisterleistungen

Backnangs Juze, das älteste selbstverwaltete Jugendzentrum in Deutschland, hat 50 Jahre mit vielen Hochs und Tiefs hinter sich.

Anarchische Züge,
organisatorische
Meisterleistungen

So fing alles an: 1971 brachten die Juze-Aktivisten die Baracke im Heininger Weg und damit das erste Domizil des neuen Vereins auf Vordermann. Der Vorsitzende Kurt Pichler lugt in der hinteren Reihe als Zweiter von links zwischen zwei Mitstreitern hindurch. Fotos: Juze (4), E. Layher (2), A. Becher

Von Steffen Grün

BACKNANG. Das Juze wäre nicht das Juze, wenn es im Domizil in der Mühlstraße ein Regal mit penibel beschrifteten Ordnern geben würde, in denen alles Wichtige des letzten halben Jahrhunderts fein säuberlich niedergeschrieben ist. Was seit 6. April 1971 – dem Dienstag, an dem das Juze als „Aktion Jugendzentrum Backnang“ in das Vereinsregister eingetragen wurde – so alles passiert ist, dazu gibt’s von den Konzert- und Veranstaltungsterminen abgesehen mehr als eine Wahrheit. Es kommt etwa darauf an, welcher der altersbedingt oft wechselnden Macher befragt wird, wie lange das Ereignis zurückliegt, und ob das Erinnerungsvermögen eventuell von einigen begleitenden Bierchen beeinträchtigt ist. Einen Unterschied macht es auch, ob eigene Erlebnisse geschildert werden oder aus Überlieferungen berichtet wird. Also kann es durchaus sein, dass sich Anekdoten im Detail von Jubiläum zu Jubiläum verändern, doch es bleibt eine Erfolgsgeschichte. Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik hat ein selbstverwaltetes Jugendzentrum so lange durchgehalten wie hier, und ein Ende ist auch nicht absehbar.

Kurt Pichler: „Dann haben wir es halt selbst in die Hand genommen.“

Einer, der wissen müsste, wie alles angefangen hat, ist Kurt Pichler als treibende Kraft bei der Gründung und erster Vorsitzender. Viele Jugendliche hätten mit dem „Konsumzwang“ in Kneipen gehadert und das einzige städtische Angebot war „so ein weiß gefliester Raum“ in der Stadthalle. „Ich glaube, da stand ein Flipper drin und irgend so ein Blockwart. Das war uns zu wenig und zu kontrolliert.“ Als die Bitte, daran etwas zu ändern, auf taube Ohren stieß, „haben wir es halt selbst in die Hand genommen“. Auch der Zeitgeist mit Studentenprotest, 68er-Bewegung und der Wut der Jugendlichen, dass die Naziverbrechen im Geschichtsunterricht tabu waren, habe mit Verzögerung eine Rolle gespielt, glaubt der mittlerweile 71-Jährige.

Wert legt Pichler darauf, dass die Stadt anders als auch schon behauptet „keinerlei Beitrag geleistet hat, sie hat es gerade so geduldet“. Man habe Bauunternehmer Fleischmann, dessen Sohn ein Mitschüler von ihm war, überzeugt, dem Juze die Baracke im Heininger Weg zu überlassen. Zu Beginn ohne Miete, „er zahlte auch Strom und Wasser“. Andere Firmen trugen Materialien für den Umbau bei, den die Aktiven selbst stemmten, einige Nachbarn halfen auch. Als die Jugendlichen bald Wind davon bekamen, dass es in Backnang ein Straßenfest geben sollte, wollten sie mehr als Blasmusik. Er sei in die Gemeinderatssitzung „reingeplatzt“, erinnert sich Pichler und meint, den späteren Topkabarettisten Thomas Freitag an der Seite gehabt zu haben. Die Jugendlichen warben für ein auf sie zugeschnittenes Programm vor der Kreissparkasse und hatten Erfolg. „Wenn ihr das Maul so weit aufreißt, dann macht da mit“, habe die Stadtverwaltung gesagt, „damit war ich dann im Festausschuss“.

Die Bands an Land zu ziehen, war nur ein Aspekt, die jungen Leute hatten auch sonst weitgehend freie Hand. Dieses Vertrauen hält Pichler der Stadt bis heute zugute, denn es ermöglichte schon 1971 den Programmpunkt „Knock-out dem Auto, es lebe der Umweltschutz“. Ein alter Opel rollte die Dilleniusstraße runter, um dann mit dem Vorschlaghammer malträtiert zu werden. Diese Aktion wurde den Jugendlichen nicht nachhaltig krummgenommen. Das Juze war zwar nur kurze Zeit alleiniger Organisator und der Standort änderte sich im Laufe der fünf Jahrzehnte, aber im Kern hat sich das Konzept der Jugendmeile beim Backnanger Straßenfest etabliert.

„Wir waren nicht alleine im Ländle mit der Gründung eines Jugendzentrums“, betont der im pfälzischen 800-Seelen-Dorf Ludwigswinkel lebende Pichler und nennt das Juze Hammerschlag in Schorndorf um Werner Schretzmeier, den heutigen Leiter des Stuttgarter Theaterhauses. Im Backnanger Feuerwehrgerätehaus kam es zum Treffen der unabhängigen Jugendzentren aus der Umgebung, doch das war für den ersten Juze-Vorsitzenden schon einer der letzten Höhepunkte der kurzen Amtszeit. Ihn zog es zum Studium nach Stuttgart, es gab aber auch verschiedene Vorstellungen. Pichler und seine Freunde wollten die Einnahmen von Konzerten mit The Lords, Birth Control, dem Gitarristen Martin Kolbe oder dem jungen Wolle Kriwanek auch einmal auf die hohe Kante legen, die Mehrheit wollte die Kohle raushauen.

Das Juze schlitterte in die Führungskrise, auch gab es Probleme mit harten Drogen und ungebetenen Gästen. Ein Notvorstand um Helmut Speckmaier leitete die Rettung ein. Die bis heute etablierten basisdemokratischen Strukturen erschuf der Neuvorsitzende Ulrich Weik – „ein großer Stratege, der Realos und linke Hippies zusammenführte“, sagt Armin Holp, profunder Kenner der Historie. Die Stadt überwies nun die Minimiete, das Juze gelangte in ruhigeres Fahrwasser und entwickelte sich zunehmend zur Institution, die der Vorsitzende Ralf Schacht beim 25-Jahr-Jubiläum so beschrieb: Viele Jugendliche hätten den mit Erfolgen und Rückschlägen gepflasterten Weg „unter Aufopferung oftmals ihrer gesamten Freizeit begangen, um etwas am Leben zu erhalten, das ihnen – und wohl auch schon immer den Besuchern – enorm wichtig war und ist. Nämlich einen Ort, an dem Freizeitgestaltung kein bezahlbares Konsumgut ist, sondern erarbeitet und gestaltet werden muss.“

Zu den Tiefpunkten, die das Juze erlebte, zählte der Brand im Heininger Weg am 24. Juni 1974. Am Straßenfest-Montag wurde die Baracke in weiten Teilen zum Raub der Flammen. Einziger Trost: Wegen des geplanten Ausbaus des benachbarten Kindergartens wäre sie sowieso abgerissen worden, zudem konnte der Außenbereich als beliebter Treffpunkt in der wärmeren Jahreszeit vorerst weiter genutzt werden. Nach dem Umzug in die Schlachthofstraße, wo die Stadt dem Juze auf dem heutigen Stadtwerkeparkplatz die alte Lehrwerkstatt der Berufsschule zur Verfügung stellte, „blühte das Juze richtig auf“, sagt Holp. Er nennt Rüdiger Kleinau und Rainer Lachenmaier als Leitwölfe, „drumherum Leute, die heute den harten CJE-Kern bilden“. Einer ist Roland Jeck, der lachend verrät, dass das Juze „zeitweilig der größte Abnehmer von Sulzbacher Adlerbräu war – das weiß ich genau, weil Getränke Jeck und damit mein Vater der Lieferant war“. Neben Konzerten gab es Sportgruppen sowie Film-, Kabarett- und Theaterabende. Politische Themen wie die Friedensbewegung, Anti-Atomkraft, Emanzipation und Kriegsdienstverweigerung wurden debattiert, aber auch der reine Spaßfaktor kam nicht zu kurz. Wichtigstes Event: das freitägliche Brezelfest, der benachbarte Bäcker lieferte am frühen Morgen. „Der Rekord: die Nacht der 1000 Brezeln am 13. Mai 1978“, sagt Holp: „Das Juze lief so gut, dass man Geld mit einem Umsonst- und Draußenfestival raushauen musste.“

Etwa ab 1983 bröckelte das Fundament, die von der No-Future-Bewegung geprägte zweite Punkgeneration erschwerte die Arbeit. Frust brach sich Bahn, eine „Zerstörungsparty“ im Februar 1985 war der Tiefpunkt, die Stadt kündigte den Vertrag für die Räume. Das Ende drohte, aber die Streithähne rauften sich zusammen. Das Juze ging ins Exil im Jugendhaus, die von der Stadt einst geplante Zusammenlegung kam aber nicht. Im OB-Wahlkampf 1986 sprach sich allen voran Hannes Rieckhoff für ein neues Domizil aus, was zur kuriosen Allianz führte, dass das linke Juze den CDU-Mann unterstützte. Rieckhoff hielt Wort, die einstige Kaelble-Lehrwerkstatt in der Mühlstraße wurde zur neuen Heimat und am 14. März 1987 eröffnet.

Die Konzerte erreichten ungeahnte Dimensionen. Die New Christs lockten laut Holp „so viele Besucher an, dass die Band am selben Abend mit Publikumswechsel ein zweites Mal spielte“. Manchmal wurde auch draußen gefeiert, bis Nachbarn meuterten, dann gab es gewisse Einschränkungen. Trotzdem liebten es viele Bands aus Europa und den USA, im Juze zu spielen, erinnert sich der frühere Pressewart und Kassier Daniel Mouratidis. Er erklärt das mit der tollen Atmosphäre in den verwinkelten Räumen und spezieller Betreuung. Anderswo wird Pizza geliefert, „wir kochten handgeschabte Kässpätzle, für die Punkband Nine Pound Hammer aus Kentucky gab es gebackene Hühnchen“.

Green Day und die Misfits sind die absoluten Konzerthighlights.

Kurz bevor sie Topstars wurden, kamen 1994 Green Day. Die Misfits waren das bereits, als sie 1999 beim Straßenfest auf der Juze-Bühne standen. Deren Agentur wollte ein Loch im Tourkalender stopfen, das Salär war dem Juze zu teuer. „Maximal die Hälfte“, war die Ansage, „okay, das passt“, die Antwort. „Wir hatten die Misfits für ein Nasenwasser gebucht“, erzählt Mouratidis stolz. Dass sich Punks aus Stuttgart, die das Konzert besucht hatten, an anderer Stelle des Straßenfests eine Keilerei lieferten und es deshalb Ärger mit der Stadt gab, war die unschöne Begleiterscheinung. „Die wenigsten Konzerte waren profitabel“, so Mouratidis. „Es war eine bewusste Entscheidung für Qualität – für Bands, auf die wir Bock hatten.“

Um ein breiteres Publikum anzuziehen, kreierte man Mottopartys, „die Ossi-Party war die skurrilste, die Detailtreue war beeindruckend“. Statt Punk dudelten die Puhdys vom Band, „ neben der Lesung aus dem Schichtbuch der Rübenzuckerfabrik Lützen war ein Manfred-Krug-Double ein Höhepunkt der Show Ein Kessel Graues“, lacht Mouratidis. Einiges hätten folgende Generationen übernommen, manches zu Recht nicht. Das Juze ist weiter über die Region hinaus für Konzerte bekannt. Der Gurkencup, ein Fußballturnier mit hohem Spaßfaktor, hat seinen Platz. Und natürlich die Murr-Regatta, die bekannteste Juze-Erfindung. Sie gilt als größte Spaßbootregatta der Welt, stand mit 66 Booten im Guinnessbuch der Rekorde 1997 und lockte 2019 beim 34. Mal noch viel mehr Starter an. Zum Juze-Wesenskern gehört der Kampf gegen Rechtsextremismus. Die Inforunde, in der Events besprochen werden, die Arbeitskreise und die Vorstandsstruktur überdauerten die vielen Jahre.

„Im Juze wurden sehr viele junge Menschen durch eine basisdemokratische Kultur nachhaltig in deren Demokratieverständnis und Eigenverantwortlichkeit geprägt“, sagt Roland Jeck, der selbst stellvertretender Leiter des Staatlichen Schulamts Backnang ist. Viele Ex-Juze-Aktivisten sind im Beruf sehr erfolgreich, Daniel Mouratidis ist als stellvertretender Regierungssprecher in Sachsen-Anhalt nur ein Beispiel. Des Juzes 50. Geburtstag steht im Zeichen von Corona, aber die Macher gucken nach vorne. Sorgen bereitet die Bebauung des IBA-Geländes, obwohl die Signale der Stadt so sind, dass das Juze dauerhaft bleiben kann. Janosch Renner, der aktuelle Vorsitzende, hat es erfreut registriert, man habe aber noch immer die Angst, dass in direkter Umgebung teure Wohnungen entstehen könnten, womit die Konflikte vorprogrammiert wären. „Wir wollen unsere Heimat behalten“, sagt der 28-Jährige noch einmal, denn dazu ist die Mühlstraße in 34 Jahren längst geworden.

Nur ein Online-Treff ist möglich

Eine rauschende Gala wie bei zurückliegenden Jubiläen würde es wegen der Coronakrise nicht geben, das war den Juze-Verantwortlichen schon länger klar. Deshalb verschoben sie die Reservierung des Bürgerhauses auf 2022, die große Feier soll eben zum 51. Geburtstag nachgeholt werden.

Zum 50-Jahr-Jubiläum hatte das Juze heute aber einen Livestream geplant – etwa mit dem Juze-Männerchor und der Band „Sensi Simon and his Brother“. Doch auch daraus wird nichts, das Rechts- und Ordnungsamt legte sein Veto ein. Die Hauptbegründung: Es dürfen sich derzeit maximal fünf Personen aus zwei Haushalten treffen, daran ändert auch ein Hygienekonzept nichts.

Sobald es die Inzidenzzahlen erlauben, soll die virtuelle Party steigen. Heute ab 19 Uhr bleibt nur der Online-Treff über Discord – alle Infos unter www.juzebacknang.com.