Angst unter dem Zuckerhut

Bewohner der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro werden von Milizen terrorisiert – Politiker müssen von Leibwächtern geschützt werden

Rio de Janeiro (AP). Der Zigaretten-Schmuggel ist eine der wichtigsten Finanzquellen von paramilitärischen Gruppen in Brasilien. In Paraguay ist eine Schachtel für wenige Cents zu haben, auf dem Schwarzmarkt in Brasilien können die Milizen sie für ein Vielfaches weiterverkaufen. In den Gebieten, die sie kontrollieren, bitten sie auch die Bewohner zur Kasse – ob mit „Sonderabgaben“ auf Wasser- und Stromanschlüsse oder mit direkter Erpressung. Wer sich nicht fügt, muss um sein Leben fürchten. In der brasilianischen Küstenmetropole Rio de Janeiro sind ganze Stadtteile betroffen.

„Es ist wie ein Krebsgeschwür“, sagt der an den Ermittlungen beteiligte Polizist Mauricio Demétrio. Bei ihren Ermittlungen in der Stadt unter dem Zuckerhut stießen die Behörden aber nicht nur auf Beweise für den Schmuggel und erpresserisches Gebaren: Die Kämpfer sind offenbar mit Kameras und Online-Überwachungssystemen sehr viel besser ausgerüstet als bisher bekannt – und es gibt Hinweise auf direkte Kontakte zum organisierten Verbrechen.

Die Anfänge der Milizen reichen bis in die 90er Jahre zurück. Ex-Sicherheitskräfte und andere Personen schlossen sich zusammen, um in ihren jeweiligen Wohngebieten der ausufernden Kriminalität etwas entgegenzusetzen. Von den Behörden wurden sie lange geduldet, von einigen Politikern sogar unterstützt. Der gerade zum Präsidenten gewählte Jair Bolsonaro forderte 2008 als Abgeordneter sogar ihre Legalisierung.

Zumindest theoretisch halfen die Milizen dort, wo der Staat machtlos geworden war. Im Gegenzug sah der Staat darüber hinweg, dass sie sich über illegale Geschäfte finanzierten und dass bei ihren Übergriffen in den Armenvierteln von Rio oft viele Menschen ums Leben kamen. Mit der Zeit konnten die die Milizen ihre Kontrolle weiter ausweiten. Sie wurden immer brutaler.

Die größte Gefahr für die Bewohner der Stadt sind laut Experten heute nicht mehr Drogengangs, sondern ebenjene Milizen. Im Alltag fügen sich die Mitglieder der Gruppen geschickt ins öffentliche Leben ihrer Viertel ein. „Wenn man einfach Truppen reinschickt, wird man niemanden finden“, sagt der Regionalpolitiker Marcelo Freixo, der wegen seines Eintretens gegen die Milizen von Leibwächtern geschützt wird.

„Es gibt einen Krieg zwischen den Milizen und den Dealern. Und wir sind mittendrin“, sagt eine Bewohnerin einer Siedlung im Westen Rios, in der aktuell die Drogenbanden wieder das Sagen haben. Sie beschreibt, wie die Milizen einige Jahre herrschten: Für ihren Kabelanschluss, für fließend Wasser, fürs Parken und für ihren „Schutz“ habe sie monatliche Zahlungen leisten müssen.

Nach Schätzungen der Behörden ist etwa ein Viertel des Staates Rio de Janeiro, und damit eine Fläche von etwa 11 000 Quadratkilometern, fest in der Hand der paramilitärischen Gruppen. Wie sehr diese dabei zum Teil auch öffentliche Strukturen unterwandert haben, ließ der Mord an der Politikerin Marielle Franco im März erahnen. Während sie und ihr Fahrer in ihrem Auto erschossen wurden, waren in der betreffenden Straße die Überwachungskameras ausgeschaltet.

In den vergangenen Jahren gab es durchaus Versuche, den Einfluss der Milizen einzudämmen. Gebracht hat das aber meist nichts. Ein Beispiel: Stadtrat Josinaldo Francisco da Cruz hatte einmal über Vorgänge in der Armensiedlung Rio das Pedras berichtet. „Als er mit seiner Aussage fertig war, fügte er hinzu: ‚Ich werde sterben‘“, sagt Regionalpolitiker Freixo. Kurz darauf sei der Mann mit zehn Schüssen getötet worden.