Auf der Straße in einer kalten Nacht

„Deutschland singt – mit Maske! Deutschland feiert – mit Abstand!“ So begann Dekan Wilfried Brauns Grußwort zum 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung auf dem Marktplatz in Sulzbach. Erinnerungen an die Leipziger Geschehnisse 1989 kamen auf.

Auf der Straße in einer kalten Nacht

Ohne Böllerschüsse, mit Kerzen, Singen, Beten und Erinnerungen: Feier zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung in Sulzbach. Foto: J. Fiedler

Von Renate Schweizer

SULZBACH AN DER MURR. „Wir hatten uns diesen Festtag anders vorgestellt: größer, ausgelassener, sorgloser.“ Aber nun war es, wie es war. Und wer weiß, vielleicht wäre die Zusammenarbeit all dieser vielen Beteiligten und dieses schöne Fest auf dem Marktplatz ohne Corona und die schwierigen Bestimmungen, die da jetzt einzuhalten sind, gar nicht zustande gekommen. Wenn auch die Ereignisse, die da im Herbst vor 31 Jahren am Ende zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung geführt haben, zumindest für die Akteure im Osten Deutschlands wohl noch dramatischer waren als das Pandemiegeschehen heute, so war doch manches auch ähnlich: Angst und Ungewissheit als Lebensgrundgefühl, Zusammenhalt, Kerzen, Beten und Singen als (nur scheinbar) so fürchterlich schwache Helfer gegen die eigene Ohnmacht – ja, vielleicht war genau diese Art zu feiern die richtige und passende, um diesen denkwürdigen Festtag zu begehen.

Und so war es nun also: Am 3. Oktober, am Abend kurz vor 18.30 Uhr, trafen sich auf vielen Markt- und Festplätzen in ganz Deutschland Menschen, um gemeinsam zur gleichen Zeit die gleichen Lieder in der gleichen Reihenfolge zu singen – eine Initiative aus der Mitte der Zivilgesellschaft: Die Kirchen, die ja auch bei der friedlichen Revolution vor 30 Jahren eine große Rolle gespielt hatten, waren im Boot, außerdem der Bundesmusikverband Chor und Orchester, der CVJM, der Zentralrat der Juden, Politiker aller Parteien und natürlich die Bundesregierung – und speziell in Sulzbach an der Murr firmierten als Veranstalter die Gemeinden Sulzbach und Spiegelberg, die evangelische Kirchengemeinde, der Musikverein Spiegelberg, die Akzente-Gemeinde Sulzbach und Markus Stricker von Wendrsonn.

Viele Helfer tragen dazu bei, eine stimmige Atmosphäre zu schaffen.

Ein Projektchor war gegründet worden, der sich schon seit den Sommerferien regelmäßig getroffen hat, der Musikverein trat auf, und es ist gar nicht auszudenken, wie viel Hirnschmalz, Organisationstalent, Zeit, E-Mail-Verkehr und guten Willen es gekostet haben mag, damit am Ende alles so stimmte, wie es stimmte, und auch noch den Coronaverordnungen entsprach. An dieser Stelle alle Namen aufzuzählen, hat keinen Sinn, so viele waren es – stellvertretend genannt sei nur Liselotte Denner, die am Ende auch einen „stellvertretenden“ Blumenstrauß überreicht bekam. Markus Stricker war in ungewohnter Rolle unterwegs – der Frontmann von Wendrsonn war diesmal nicht auf der Bühne zu sehen, sondern wuselte vor, hinter und um die Bühne herum, um die Technik, die er zur Verfügung gestellt hatte, für alle gut einzurichten. „Isch doch klar, dass ich das mache, i komm doch aus Sulzbach, da helf ich doch gern.“ Tatsächlich waren die sechs Sängerinnen und Sänger, die da nur auf der Bühne sein durften, und die Musikbegleitung zuweilen minimal zeitversetzt. Vielleicht war das den großen Abständen geschuldet – auf jeden Fall erzeugte es ungewollt eine absolut stimmige Atmosphäre: Hier singt das Volk, vielleicht nicht perfekt, aber aus vollem Herzen – und alle singen mit. Und zugegeben: Dass jeder ein Textheft bekam, half enorm.

Zwischendurch las Brigitte Bigl-Radun aus ihren Tagebüchern der Jahre 1989 bis 1990 vor. Sie lebte damals mit ihren zwei Kindern in Leipzig. Aus jeder Zeile dieser Texte kroch Angst und Beklemmung. Konnte ja keiner ahnen, wie das alles weitergehen würde, aber eins wusste sie immer genau: „Wenn ich auch nur für kurze Zeit in Gewahrsam genommen würde, würden mir die Kinder weggenommen werden.“ Beispiele dafür gab es genug. Trotzdem nahm sie teil an den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche – „es wurden immer mehr Teilnehmer, und am Ende dieser Gebete gab es inzwischen viele Festnahmen“. Wie konnte man unter diesen Umständen der Verantwortung für Kinder gerecht werden? Dann, am 9. Oktober 1989, der Anruf ihrer Mutter: Ganze Kolonnen von Armeefahrzeugen und Panzerwagen kämen auf Leipzig zugerollt. An dieser Montagsdemo nahm Bigl-Radun nicht teil – sie ist nach Hause gegangen, zu ihren Kindern. „Im Nachhinein wurde bekannt“, erzählt die Zeitzeugin, „dass die Kühlhäuser des Schlachthofs für zu erwartende Leichen freigeräumt“ worden waren, doch das Wunder geschah: „Die Demo endete friedlich, ohne Gewalt!“

Die meisten Menschen auf dem Sulzbacher Marktplatz hatten die Geschehnisse in Leipzig und anderswo in der ehemaligen DDR vor rund 30 Jahren vom gemütlichen Sofa aus am Fernsehbildschirm erlebt – und einige kannten sie auch nur aus dem Geschichtsunterricht. Hier wurden sie mit hineingenommen in den Strudel von Angst, Wut, Mut, Trauer und Erleichterung – und das, obwohl ja heute, aus dem sicheren Abstand von 30 Jahren, alle wissen, wie es damals ausgegangen ist. Man kann das Leben rückwärts verstehen, muss es aber vorwärts leben. Kierkegaard hat das gesagt, und wo er recht hat, hat er recht.

So war es, 30 Jahre danach und mitten in ungewissen Coronazeiten, genau die richtige Einheitsfeier: ohne Sekt, Böllerschüsse und wohlgeheizte Bürgersäle, sondern auf der Straße in einer kalten Oktobernacht mit Singen, Beten, Kerzen und Erinnerungen.