Aufarbeitung nach Anschlag auf Hochtouren

Von Von Jutta Schütz, Andreas Rabenstein und Anne-Beatrice Clasmann, dpa

dpa Berlin. Seit mehr als vier Jahren lebt der Gewalttäter von der Berliner Autobahn in Deutschland. Einige Jahre davon in einer Containersiedlung. Nach der Tat stellt sich die Frage, ob er jemals in seiner neuen Heimat ankam.

Aufarbeitung nach Anschlag auf Hochtouren

Kreidespuren der Polizei von dem mutmaßlich islamistischen Anschlag auf der Berliner Stadtautobahn. Foto: Paul Zinken/dpa-Zentralbild/dpa

Im Sommer 2016 zog der Iraker in eine Containersiedlung für Flüchtlinge im Südosten der deutschen Hauptstadt. Ein paar Kilometer weiter starten Flugzeuge vom Flughafen Berlin-Schönefeld.

Niemand erinnert sich dort auf Nachfragen an den jungen Mann, der hier bis zum Sommer 2019 wohnte und nun auf der Berliner Autobahn gezielt mit einem Auto Fahrzeuge rammte und Jagd auf Motorräder machte.

Wie konnte es dazu kommen? Wurde der psychisch labile 30-Jährige aufgestachelt, oder handelte er allein aus „bizarrem religiösem Wahn“, den ein Gutachten attestiert? Es ist Tag zwei nach dem islamistischen Anschlag. Es gibt viele offene Fragen, die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. Das Bild des Täters ist noch nicht vollständig. Der Angreifer ist inzwischen in der Psychiatrie im Maßregelvollzug, dem Haftkrankenhaus, untergebracht. Wegen der psychischen Erkrankung sei eine Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen.

Sechs Menschen wurden bei den Angriffen mit dem Auto verletzt, drei davon schwer. Ein lebensgefährlich verletzter Feuerwehrmann liegt weiter auf einer Intensivstation.

Im Abgeordnetenhaus sagt Innensenator Andreas Geisel (SPD), der Mann sei nach Ablehnung seines Asylantrages 2017 nicht abgeschoben worden, weil Deutschland seit Jahren keine Menschen in das Bürgerkriegsland Irak zurückschicke. Es gebe zwar Ausnahmen, etwa wenn schwerste Straftaten begangen wurden. Doch die vor dem Anschlag vorliegenden Erkenntnisse seien dafür nicht ausreichend gewesen.

„Der Staatsschutz hat ihn zwar als einen Bekannten eines erfassten Gefährders hier in Berlin registriert“, so Geisel. Die beiden Männer hätten gemeinsam in dem Wohnheim gelebt, doch das sei „schon eine ganze Weile her“. Wie eng der Kontakt zu dem radikalen Islamisten aus Syrien war, wird noch ermittelt. Gegenüber deutschen Behörden soll sich dieser Syrer zwar als von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verfolgter Flüchtling ausgegeben haben. Die Sicherheitsbehörden schätzen ihn aber anders ein.

Nach bisherigen Erkenntnissen der Behörden kam der 30-jährige Iraker nicht als sogenannter Schläfer nach Deutschland. So nennen Experten Terroristen, die mit dem Auftrag, einen Anschlag zu verüben, in ein anderes Land geschickt werden. Der Fall zeigt eher, dass neben Gefängnissen und Salafisten-Moscheen auch Flüchtlingsunterkünfte Orte sein können, an denen sich Menschen, die sich in Deutschland noch fremd fühlen, radikalisieren können. Und dass die Behörden gut beraten sind, genau zu schauen, wen sie da zusammen wohnen lassen.

Über den Iraker ist bisher bekannt, dass er in Bagdad geboren wurde. Bei den Behörden heißt es, er habe angegeben, im Irak vier Jahre Modedesign studiert zu haben. Auf seinem Facebook-Profil, das seit September 2011 besteht, hatte er von „Graphic design“ geschrieben. Dort postete er im März 2015 ein Foto vom Abschlusstag an einer irakischen Kunstakademie.

2018 fiel er der Polizei auf. Es ging laut Justiz um den Verdacht der Körperverletzung, also vermutlich Prügeleien. Dazu kam im August 2018 ein Widerstand gegen Polizisten vor der Flüchtlingsunterkunft. Er wurde festgenommen und kurz in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht, vor allem als „Maßnahme zur Gefahrenabwehr“, heißt es bei der Justiz. Im April 2019 sprach ein Amtsgericht ihn frei. Er sei phasenweise nicht schuldfähig gewesen. Schon damals ging es um psychische Auffälligkeiten oder eine Labilität.

Im Sommer 2019 kam es zu einer weiteren Prügelei mit einem anderen Bewohner. Der Iraker flog aus der Container-Unterkunft und erhielt Hausverbot. Ab Oktober wohnte er in einer Wohnung in Reinickendorf zusammen mit einem Bruder.

Es sieht so aus, als sei der 30-Jährige an der Fremde und sich selbst gescheitert. Nach der Ankunft in einem Land, das so anders war als die Heimat. Dass er auch nach mehr als vier Jahren in Deutschland keine deutschen Inhalte oder Fotos von neuen Freunden auf seinem Facebook-Profil veröffentlichte, könnte ein Indiz dafür sein, dass er sich in der neuen Heimat nicht zu Hause fühlte.

Wirklich heimelig ist die Containersiedlung am Stadtrand, in der er immerhin drei Jahre lebte, aber auch nicht. Umzäunt und mit häufig wechselnden Bewohnern aus zahlreichen Ländern und Kulturen. Manche Flüchtlinge und Einwanderer leben hier Jahre, andere nur Monate.

Die Nachbarschaft ist nicht aufgeschlossen. Am Gartentor gegenüber der Container steht am Donnerstag ein älterer Mann in T-Shirt und kurzer Hose neben seinem BMW. 20 Minuten lang schimpft er über die geflohenen Menschen: Die Kinder seien zu laut, selbst am Wochenende seien sie zu hören. Die Erwachsenen säßen in den warmen Sommernächten bis abends draußen an einem Grillplatz vor ihren Containern und würden sich unterhalten. Öfter würde er wegen des Lärms die Polizei rufen, die schicke die Bewohner dann zurück in die Container. Überhaupt würden die Bewohner dort nur Müll hinterlassen und Geld kassieren. Direktmandate in der Umgebung gewann zuletzt die AfD.

Der Iraker ist nun in der Psychiatrie untergebracht, das sei eine erste Momentaufnahme und bedeute nicht automatisch, dass er nicht schuldfähig sei, hieß es in Ermittlerkreisen. Der 30-Jährige werde weiter begutachtet und befragt. Nach seiner Festnahme durch die Polizei soll er sich aggressiv verhalten haben. Generalstaatsanwältin Margarete Koppers hatte am Mittwoch gesagt, trotz psychischer Auffälligkeiten sei ein gezieltes Verhalten möglich. Jetzt hängt einiges von den Urteilen der psychologischen Experten ab.

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