Sexualkunde in der Schule: Aufklärung ist ein lebenslanger Lernprozess

Pornografie im Netz, Missbrauchsskandale, Debatten über Geschlechtsidentität: Kinder werden heute früh mit Sexualität konfrontiert. Wie sieht ein guter Umgang mit ihr aus? Sexualkunde an Schulen und Aufklärung zu Hause sollten sich den Jugendlichen anpassen, sagt eine Expertin.

Sexualkunde in der Schule: Aufklärung ist ein lebenslanger Lernprozess

Sexualerziehung ist mehr als der klassische Aufklärungsunterricht, in dem die Biologie, Verhütungsmittel und übertragbare Krankheiten im Vordergrund stehen. Sie soll Kindern eine Sprache für sich, ihren Körper und ihre Gefühle geben. Foto: imago stock&people

Von Nicola Scharpf

Backnang. Unter der Hand kursierten damals schwarz-weiß Fotos von nackten Frauen. „Für uns war das eine Sensation“, erinnert sich der Backnanger Günter Urbanski daran, wie er und seine Mitschüler im Alter von etwa zwölf Jahren Mitte der 1960er-Jahre erstmals mit Weiblichkeit in Berührung kamen. Aufklärung oder Sexualerziehung seien damals weder in der Familie noch im Schulunterricht erfolgt. „Das Wort Sex hat es überhaupt nicht gegeben. Und das ist bei uns Alten bis heute so geblieben“, sagt eine 94-Jährige, die ihren Namen aus diesem Grund nicht in der Zeitung lesen möchte. Nur so viel: Sie kommt aus einer Aspacher Bauersfamilie und bevor die Sexualerziehung in der Schule für sie altersmäßig überhaupt hätte relevant werden können, musste sie die Schule nach der Konfirmation mit 14 Jahren verlassen – um zu arbeiten. „Da wo es Trubel hätte geben können, hat man schaffen müssen.“ In den Jahren ihrer Jugend nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seien außerdem gar nicht viele Jungs da gewesen – gefallen oder in Gefangenschaft. „Wir sind auf dem Land unbedarfte Kinder gewesen. Ich war überrascht, als ich meine Periode bekommen habe. Meine große Schwester hat mir notgedrungen geholfen.“ Nur im Stall, bei den Tieren, sei sie mit dem Thema Fortpflanzung konfrontiert worden. „Ich habe erst gemerkt, wie unbedarft ich bin, als ich geheiratet habe.“ Ihre eigenen fünf Kinder hat sie nicht aufgeklärt. Sie lacht und winkt ab: „Die hätten mich aufklären können.“

In Bezug auf den Umgang mit Sexualität liegen zwischen damals und heute Welten. Die Gesellschaft hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten enorm gewandelt: Pornografie ist im Internet omnipräsent geworden, Missbrauchsskandale gehen durch die Medien, öffentlich wird über Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität debattiert. Wie schlägt sich das nieder in der Aufklärung der Kinder zu Hause und im Sexualkundeunterricht in der Schule? Wie sieht gute Sexualerziehung aus in einer Gesellschaft, in der das Modell Mutter-Vater-Kind an Bedeutung verliert? In der es ein drittes Geschlecht gibt? In der sich das Kürzel LGBTQ für sexuelle Orientierungen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, durchgesetzt hat?

Schulen holen sich oft externe Begleitung durch Sexualpädagogen

Fragen wie diese bewegen Lehrer, Eltern und Schüler. Schulen holen sich für den Sexualkundeunterricht häufig Begleitung: Die Sexualpädagoginnen und -pädagogen der Waiblinger Beratungsstelle von Pro Familia beispielsweise bieten Projekte für Klassen ab der dritten Jahrgangsstufe an. So kooperiert etwa das Backnanger Gymnasium in der Taus seit mehreren Jahren mit Pro Familia, der Förderverein der Schule übernimmt die Organisation der Sexualkundeprojekte. Die externen Sexualpädagogen würden das Thema nicht nur aus biologischer Sicht und als die Lehre von der Fortpflanzung behandeln, sondern beispielsweise auch die Rolle der neuen Medien einfließen lassen oder mit den Jugendlichen in nach Geschlechtern getrennten Gruppen arbeiten, sagt Saphira Schuh. Die Vorsitzende des Fördervereins weiter: Der Großteil der Sechstklässlerinnen sei bei Instagram oder TikTok und habe bereits sexuelle Belästigung erlebt. „Das finde ich als Mutter erschreckend.“ Die Unterstützung durch die Beratungsstelle bezeichnet sie als Win-win-Situation. Viele Lehrer seien froh, dass sie die Sexualkunde mit den Schülern nicht besprechen müssen, obwohl sie die pädagogische Ausbildung dafür hätten. Die Schüler wiederum, so der Tenor von anonymen Rückmeldebögen, würden die Projekte von außerhalb gut annehmen, weil sie sich einer externen Fachkraft gegenüber besser öffnen könnten als dem Lehrer gegenüber. Schuh weiß aber auch von anderen Backnanger Schulen, an denen der Sexualkundeunterricht ganz bewusst von den regulären Lehrern gehalten wird. Das Argument hier: Es sei wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler Vertrauen zur Lehrkraft hätten.

Doch bevor die Schule überhaupt ins Spiel kommt, sind die Eltern gefragt: „Sie sind der wichtigste Ansprechpartner“, sagt Mirjam Seiz. Die Sozialpädagogin gehört zum sexualpädagogischen Team von Pro Familia in Waiblingen und ist mit den verschiedenen Bildungsangeboten an Schulen im Landkreis unterwegs. Es gebe Elternhäuser, die viel zur gelingenden Sexualerziehung ihrer Kinder beitrügen – „nicht mal proaktiv, sondern indem sie es leben“. Häufig spiele der kulturelle Hintergrund eine Rolle. Sie erlebe zum Beispiel, dass muslimische Mädchen weniger aufgeklärt würden. Wichtig findet Seiz jedenfalls, dass Eltern Aufklärung nicht auf das eine Gespräch reduzieren, sondern sie als „lebenslangen, lebensbegleitenden Lernprozess“ begreifen. „Die Aufklärung passt sich den Jugendlichen an.“

„Die Kinder sind offen und neugierig. Es kommen Tausende Fragen“

Dementsprechend holen Seiz und ihre Kollegen die Schüler in den Projekten da ab, wo sie stehen. „Die Kinder und Jugendlichen sind offen und neugierig. Wir sitzen in den Projekten und es kommen Tausende Fragen“, schildert sie. Gehe es in der vierten Klasse vor allem um Pubertät, Brustentwicklung und Weißfluss, sei ab der siebten Klasse oft Pornografie ein Thema und bei älteren Schülern seien die Projekte eher von Austausch als von Wissensvermittlung geprägt. „Alle haben fast identische Fragen in der jeweiligen Klassenstufe.“ Insgesamt finde Aufklärung heute viel mehr statt als früher. Damit einher gehe ein Mehr an Prävention: „Viertklässler sollen wissen, wie Geschlechtsverkehr funktioniert – nicht damit sie es tun, sondern um die Kinder zu schützen. Es ist wichtig, die Körperteile benennen zu können und Sensibilität zu schaffen.“ Sensibilität beispielsweise für das Thema „Mein Körper gehört mir“, für grenzverletzendes Verhalten, dafür, welches Frauenbild in Pornos vermittelt wird, weshalb ein starker Pornokonsum hinderlich für die eigene Sexualität sein kann oder dafür, wie viel und was man von sich im Internet preisgibt. Ein Problem sieht Seiz darin, dass Kinder und Jugendliche über viele Dinge sehr viel wissen und über andere nichts. „Sie kennen zum Beispiel zig verschiedene Sexstellungen. Sie wissen aber nicht, dass die Klitoris das Lustzentrum der Frau ist.“ Von daher ist Aufklärung auch mehr als reine Prävention: Sie ist „Voraussetzung für eine tolle, erfüllte Sexualität“.

Sexualerziehung in der Schule

Staatliche Erziehung Der Staat hat einen Auftrag zur sexuellen Erziehung. So legte das Bundesverfassungsgericht 1977 nach vielen Klagen fest: „Gemäß Art. 6 Abs. 2 GG haben Eltern das Recht, die Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten.“ Aber „der deutsche Rechtsstaat darf gemäß Art. 7 Abs. 1 GG eigene Erziehungsziele verfolgen“. Und: „Die Sexualität weist bekanntlich vielfache gesellschaftliche Bezüge auf. Deshalb kann es dem Staat auch nicht verwehrt sein, Sexualerziehung als wichtigen Bestandteil der Allgemeinerziehung von jungen Menschen auf seinem Staatsgebiet zu betrachten.“

Fächerübergreifender Unterricht Laut staatlichem Schulamt Backnang sind Sexualkunde und Aufklärung Teil der Familien- und Geschlechtserziehung in der Schule, durch die die Schülerinnen und Schüler mit den biologischen, ethischen, kulturellen und sozialen Tatsachen und Bezügen der Geschlechtlichkeit des Menschen vertraut werden sollen. Dabei wird das Bewusstsein für eine persönliche Intimsphäre und ein verantwortungsvolles, partnerschaftliches Verhalten in persönlichen Beziehungen und insbesondere in Ehe und Familie entwickelt und gefördert. In den Bildungsplänen aller Schularten sind die verschiedenen Aspekte sowohl in den Leitlinien als auch in unterschiedlichen Fächern verstetigt. Das Gesamtthema wird fächerübergreifend unterrichtet. Im Sinne eines Spiralcurriculums wird die Familien- und Geschlechtserziehung immer wieder altersgemäß mit unterschiedlicher Herangehensweise unterrichtet.