Ein abgebranntes Haus mit Sprengfallen, ein Toter, zwei Verletzte und eine Sprengstoffdrohung gegen die Wiesn: Rund um die Geschehnisse in München sind noch Fragen offen.
Verwaiste Wiesn: Bis 17.30 Uhr blieb das Oktoberfest geschlossen.
Von Patrick Guyton
Am sehr frühen Mittwochmorgen gegen 4.40 Uhr erreichte die Münchner Polizei mehrere Notrufe. Laute Explosionen waren zu hören in der Lerchenau im Norden der bayrischen Hauptstadt. Die Polizei sprach erst von einem „Zimmerbrand“, so vermeldet es der Bayerische Rundfunk. Als in der Dunkelheit die Sprengkörper detonierten und ein Haus in Brand setzten, da wusste noch niemand, welch dramatischer Tag heraufdämmern würde.
Zeitweise beschlich viele Bürger ein flaues Gefühl
Mit einem abgefackelten Haus, mindestens einem Toten, mit Verletzten und ausgebrannten Autos in der Umgebung. Mit einem Polizeieinsatz, den Beobachter vor Ort als „unglaublich“ bezeichneten. Und mit einer Bombendrohung gegen die Wiesn, der peniblen Durchsuchung dieses riesigen Areals auf Sprengstoff, der Sperrung des größten Volksfestes der Welt bis um 17.30 Uhr (wobei zunächst noch Schlimmeres befürchtet worden war). Zeitweise beschlich viele Bürger das flaue Gefühl, dass die Lage in der Stadt unsicher sein könnte, dass sie vielleicht persönlich gefährdet sein könnten.
Am Nachmittag stellte sich das Geschehen – nach vielen Gerüchten und unbestätigten Behauptungen – ziemlich gesichert so dar, wie in einer um 14.29 Uhr verschickten Pressemitteilung der Polizei umschrieben: Ein 57 Jahre alter Mann mit Wohnung in Starnberg hatte sein Elternhaus in der Lerchenau – einem Quartier,das zum Stadtbezirk Feldmoching/Hasenbergl gehört – angezündet und zwei Autos sowie einen Kleintransporter gesprengt. Verletzt wurden dabei seine 81 Jahre alte Mutter sowie seine 21-jährige Tochter, eine Deutsch-Brasilianerin. Die beiden Verletzten wurden zur Behandlung in ein Krankenhaus eingeliefert. Vom Vater des mutmaßlichen Täters, den manche Medien für tot erklärt hatten, berichtete die Polizei nichts.
Bis zum Tagesbeginn wird die Lerchenau evakuiert
Motiv für die Gewalttat soll ein massiver Erbschaftsstreit gewesen sein. Der Tatverdächtige war laut Bayrischem Rundfunk Handwerker. Er hatte nach seinem Anschlag einen Suizidversuch verübt, wurde dabei schwerst verletzt und starb in einem Auto nahe des Hauses beim Lerchenauer See. Nachbarn hatten einen Brief von ihm entdeckt und der Polizei übergeben. In diesem Brief befand sich die Bombendrohung gegen das Oktoberfest.
Bis zum Tagesbeginn wird in der Lerchenau die Gegend in einem Umkreis von 200 Meter um das abgebrannte Einfamilienhaus herum evakuiert. Polizei und Feuerwehr sind vorsichtig. Denn der Täter hat, so schreibt die Münchner Polizei um 9.18 Uhr auf X, Sprengfallen angebracht. Zur Entschärfung werden Spezialisten hinzugezogen. Auf den großen Straßen dort geht nichts mehr, die Autofahrer werden angewiesen, die Gegend möglichst weiträumig zu umfahren, so rät die Polizei. In zwei Schulen fällt der Unterricht aus. An zwei Stationen halten die Busse nicht.
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) lässt Oktoberfest sperren
Im Münchner Rathaus am Marienplatz tagt der Stadtrat in einer regulären Vollversammlung. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) verlässt den Sitzungssaal kurz und verkündet dann, dass das Oktoberfest nicht wie gewohnt um zehn Uhr öffnet, sondern wegen einer Bombendrohung gesperrt ist. Bis 17 Uhr, wenn nötig auch länger. Daraufhin spricht er auf Instagram zur Bevölkerung: Die Wiesn sei „bedroht“, deshalb könne man nicht das Risiko eingehen, „Menschen aufs Oktoberfest zu lassen“. Weiter sagt er: „Es tut mir leid, anders geht’s nicht. Sicherheit geht vor.“ In einem späteren Beitrag präzisiert der OB: Es sei nur die Wiesn bedroht, alle anderen Veranstaltungen in München könnten stattfinden.
Am späteren Vormittag macht das Gerücht die Runde, die linke Antifa könnte hinter den Explosionen stecken. Auf Website Indymedia, einer einschlägigen Plattform, hieß es unter der Überschrift „Antifa heißt Angriff“, dass man im Münchner Norden „einige Luxuskarren abgefackelt und Hausbesuche abgestattet“ habe. „Zudem ging für einen Fascho sein Morgenspaziergang nicht besonders gut aus.“ Später war die Nachricht von der Plattform gelöscht. Die Polizei stellt fest, dass ein Zusammenhang mit den Brandstiftungen „aktuell nicht gegeben“ ist. Wenn das also ein Scherz gewesen sein soll, dann war es ein ganz schlechter. Die Wiesn fällt für Stunden aus. Zunächst schien es so, als könnte das Festgelände auch für länger gesperrt bleiben. Man kann sich nicht erinnern, wann es je zu einer solchen Situation gekommen wäre. Außer nach dem rechtsextremen Terroranschlag am 26. September 1980 am Eingang der Theresienwiese. 13 Menschen kamen damals durch Bomben des Rechtsextremisten Gundolf Köhler ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Tags darauf war die Wiesn geschlossen.
An diesem Mittwoch sieht man kaum jemanden
Jetzt ist München, wie jedes Jahr um diese Zeit, ganz auf Oktoberfest getrimmt. Eigentlich fahren schon am Vormittag Heerscharen von Menschen, viele in Tracht, mit der U-Bahn Richtung Fest. An diesem Mittwoch sieht man kaum jemanden. An der U-Bahn-Tafel ist zu lesen: „Das Oktoberfest bleibt vorerst geschlossen.“ Und auf Englisch: „Oktoberfest will remain closed for now.“
Auf Werbetafeln in den Stationen preisen die sechs Wiesn-Brauereien das „Zeltkulturerbe“ an. Kioske vor dem Gelände machen Umsätze mit günstigem Bier zum „Vorglühen“. Einer in der Herzog-Heinrich-Straße hat einen Aufsteller auf der Straße: „Bier 2,50 Euro“. Sowie „4 + 1“.
Eine Gruppe aus Nordrhein-Westfalen hat von allen Misshelligkeiten nichts mitbekommen. Drei junge Männer und zwei Frauen in Tracht kommen enttäuscht von der abgesperrten Wiesn zur U-Bahn Goetheplatz. „Übel“, sagen sie. „Was machen wir jetzt?“ Am Bavariaring ist alles abgesperrt. Dutzende, ja hunderte verschiedene Ordnungskräfte sind unterwegs. Am Morgen musste das ganze Wiesn-Personal, das schon auf dem Gelände war, die Zelte wieder verlassen. Eine Security-Mitarbeiterin berichtete: „Ich war seit sechs Uhr im Einsatz, um neun kam die Meldung.“ Wiesn-Besucher musste sie abweisen und empfahl als Alternative ein bekanntes Hendl-Restaurant in der nahen Lindwurmstraße. Wer Tische oder die teureren Boxen in einem Festzelt reserviert hatte, wurde von den Festwirten kontaktiert. Die Zelte haben unterschiedliche Richtlinien für die Rückerstattungen im Falle solcher unvorhersehbarer Zwischenfälle.
Das Riesenrad drehte sich nicht, der Skyfall-Turm stand regungslos da
Das Areal wurde mit 25 Sprengstoff-Spürhunden durchkämmt. Und zwar alles. Das Oktoberfest ist 42 Hektar groß, das entspricht einer Fläche von knapp 59 Fußballfeldern. Außen war es derweil gespenstisch still. Das Riesenrad drehte sich nicht, der Skyfall-Turm stand regungslos da. Aus den Zelten ertönt keine Schunkelmusik. Der übliche Lärm fehlte, ebenso der typische Wiesn-Duft – ein Mix aus abgestandenem Bier, Gebratenem und gebrannten Mandeln.
Familie G. aus Memmingen stand auch enttäuscht am Eingang – Vater Stefan, Mutter Julia, ein kleiner Sohn und eine Tochter im Buggy. „Um zwanzig nach zehn haben wir im Auto davon gehört“, sagte die Mutter, die ein Dirndl trug. „Da dachten wir: Egal, wir fahren trotzdem hin.“ Ein Mal pro Wiesn reisen sie gerne die 120 Kilometer aus dem Allgäu an. Sie nahmen es gefasst an diesem sonnigen Tag: „Wir gehen in die Stadt und schauen mal, was wir machen.“
Am Samstagnachmittag erst war es zu einer kurzfristigen Schließung des Geländes für eine Stunde gekommen – wegen Überfüllung. Es drohte eine Massenpanik: die Gefahr, dass sich die vielen Menschen zerquetschen. Nun die Sperrung seit Mittwochmorgen. Für das Wochenende mit dem Feiertag hatten die Festwirte und die Karussell-Betreiber eigentlich noch einmal mit maximalem Andrang gerechnet. Nun müssen sie froh sein, dass nichts Übleres passiert ist.