„Coronakosten sind nicht abschätzbar“

Das Interview: Als Geschäftsführer der AOK-Bezirksdirektion Ludwigsburg/Rems-Murr ist Alexander Schmid seit April für 348000 Versicherte in zwei Landkreisen verantwortlich. Ein Gespräch über Krankenhausbetten, Ärztemangel und Telemedizin.

„Coronakosten sind nicht abschätzbar“

Foto: Imago/ PhotoAlto

Von Kornelius Fritz

Herr Schmid, Sie haben Ihre neue Stelle als Leiter der AOK-Bezirksdirektion Ludwigsburg/Rems-Murr am 1. April angetreten, also mitten im Lockdown. Kein wirklich günstiger Zeitpunkt, um eine neue Führungsposition zu übernehmen.

Ich war zwar schon seit 2014 als Geschäftsbereichsleiter Markt hier im Haus, aber es war schon ein befremdlicher Wechsel. Als ich mein neues Büro bezogen habe, war das Haus leer. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt kaum zwei Hände voll Mitarbeitende im Haus.

Wie hat die AOK damals reagiert? Konnten Sie Beratung und Service für die Kunden trotzdem weiterhin anbieten?

In der gesamten Zeit der Pandemie bis heute konnten wir unsere gesetzlichen Aufgaben vollumfänglich ausfüllen. Was allerdings nicht mehr möglich war, war die persönliche Beratung in unseren 14 Kundencentern. Deshalb waren wir sehr stark auf andere Kontaktkanäle angewiesen: Neben unserem zentralen Servicetelefon haben wir die Telefone auch auf die Kundencenter umgestellt, außerdem haben wir unser Online-Angebot ausgebaut, das auch App-basiert funktioniert. So waren wir über die gesamte Zeit voll erreichbar und handlungsfähig. Ab 29. Mai haben wir dann wieder unsere ersten Kundencenter geöffnet, zunächst nur mit Terminvereinbarung. Inzwischen können die Versicherten wieder wie früher kommen, solange die Höchstzahl an Personen im Kundencenter nicht überschritten wird.

Im Gegensatz zu anderen Krankenkassen setzen Sie weiterhin auf ein dichtes Geschäftsstellennetz mit allein sieben Kundencentern im Rems-Murr-Kreis. Ist das angesichts der fortschreitenden Digitalisierung überhaupt noch notwendig?

Die persönliche Beratung vor Ort gehört zur Philosophie der AOK, das ist unser Markenkern. Dabei geht es uns nicht nur um räumliche, sondern auch um emotionale Nähe. Vor Corona hatten wir im Jahr zirka 220000 persönliche Kontakte und wir sind in unseren Geschäftsstellen jetzt schon wieder bei 60 bis 70 Prozent der Kunden. Bei beratungsintensiven Themen, etwa zu Pflege, Rehabilitation oder schwerwiegenden Erkrankungen, ist die Nachfrage nach einer Beratung von Mensch zu Mensch weiterhin hoch. Digitalisierung ist für uns natürlich trotzdem ein Thema, aber immer nur unterstützend.

Wie hat sich Corona auf die finanzielle Situation Ihrer Kasse ausgewirkt? Sie müssen ja sowohl die Behandlung der Covid-19-Patienten als auch die Coronatests bezahlen, die in den vergangenen Wochen massenhaft durchgeführt wurden.

Das ist für uns im Moment noch nicht abschätzbar. Auf der einen Seite sind zusätzliche Kosten entstanden, andererseits hatten wir im April durch die Verschiebung von planbaren Operationen auch 43 Prozent weniger stationäre Aufnahmen. Es wird aber sicher auch Nachzieheffekte bis ins kommende Jahr hinein geben, zum Beispiel bei Rehamaßnahmen, die verschoben wurden. Welche Kosten Corona am Ende im Gesundheitswesen verursacht, ist deshalb im Moment noch nicht vorhersagbar.

Schon jetzt dürfte aber klar sein, dass Ihre Einnahmen sinken werden. Die Beiträge sind ja an Löhne und Gehälter gekoppelt und die werden durch Kurzarbeit und steigende Arbeitslosigkeit zurückgehen.

Die Bundesregierung rechnet für 2021 mit einer Lücke von 16,6 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Ganze nur mit der Coronapandemie zu begründen, ist jedoch nicht richtig. Mehr als zwei Drittel der Finanzlücke gehen auf das Konto der Vor-Corona-Gesetzgebung. Der Bund hat zugesagt, dass ein zusätzlicher Steuerzuschuss von fünf Milliarden Euro ins System gegeben wird, die Krankenkassen sollen einen Beitrag von acht Milliarden Euro leisten, die restlichen drei Milliarden sollen offensichtlich über eine Erhöhung des durchschnittlichen Zusatzbeitrages um zwei Zehntel auf 1,3 Prozent geleistet werden. Der Wettbewerbsgedanke in der gesetzlichen Krankenversicherung wird damit ad absurdum geführt. Es ist im Prinzip ein guter Gedanke, wenn die Bundesregierung verspricht, die Sozialversicherungsbeiträge vorerst nicht über 40 Prozent steigen zu lassen. Allerdings sollte sie das durch einen Bundeszuschuss finanzieren. Stattdessen verbrennt man nun die Rücklagen von solide wirtschaftenden Krankenkassen.

Der Chef des AOK-Bundesverbands Martin Litsch ist der Meinung, dass es in Deutschland zu viele Krankenhausbetten gibt. Tatsächlich ist die Zahl der Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner in keinem Land der EU so hoch wie in Deutschland. Sehen Sie eine solche Überversorgung auch im Rems-Murr-Kreis und im Landkreis Ludwigsburg?

Wir haben generell in Baden-Württemberg die niedrigste Zahl an Krankenhausbetten in ganz Deutschland. Für die AOK ist wichtig, dass wir eine qualitativ hochwertige und zugleich wohnortnahe Versorgung sicherstellen können. Der Rems-Murr-Kreis ist mit seinen Kliniken hervorragend aufgestellt. Durch die Konzentration haben sich die medizinischen Leistungen hier zum Beispiel im Bereich Neurologie deutlich verbessert. Und der Anteil der Patienten aus dem Landkreis ist in den Rems-Murr-Kliniken so hoch wie nie. Das spricht dafür, dass wir hier eine gute Versorgungsstruktur haben.

Die Rems-Murr-Kliniken setzen auf Expansion: Sowohl in Winnenden als auch in Schorndorf soll kräftig investiert werden, die Bettenzahl wird erhöht. Was halten Sie davon?

Krankenhausplanung ist Sache des Landes, da sind wir nicht der richtige Ansprechpartner. Grundsätzlich befürworten wir es aber, wenn es hochwertige regionale Versorgungsstrukturen gibt, unter der Voraussetzung, dass es konzentriert und spezialisiert sein sollte. Was im Rems-Murr-Kreis in den letzten Jahren passiert ist, geht deshalb aus unserer Sicht in die richtige Richtung.

Vor allem im ländlichen Raum wird der Ärztemangel im ambulanten Bereich immer offensichtlicher. Was können Sie als Krankenkasse dagegen tun?

Die AOK Baden-Württemberg bietet, gemeinsam mit ihren Partnern Medi Baden-Württemberg und dem Hausärzteverband, ein Hausarzt- und ein Facharztprogramm an, die für die teilnehmenden Ärzte von der Vergütung und der Planbarkeit äußerst attraktiv sind. Für die Versicherten, die sich in diesen Programmen einschreiben, übernehmen wir den Sicherstellungsauftrag. Konkret bedeutet das: Sie kommen schneller an Termine und es gibt eine bessere Koordination zwischen Hausarzt und Facharzt. Die Verträge ermöglichen es den Ärzten auch, sogenannte Versorgungsassistenten einzusetzen, die durch spezielle Qualifikationen ärztliche Tätigkeiten übernehmen können und so den Arzt entlasten. Mit diesen Modellen setzen wir uns für die flächendeckende Sicherstellung der ambulanten Versorgung für unsere Versicherten ein.

Neben der hohen Arbeitsbelastung und der bescheidenen Bezahlung beklagen Ärztevertreter auch jede Menge Bürokratie und machen dafür die Krankenkassen verantwortlich. Welchen Beitrag können Sie leisten, um den Hausarztberuf attraktiver zu machen?

Auch dieses Thema wird in den beschriebenen Vertragsmodellen abgebildet. Die Abrechnungssystematik ist in diesen Programmen stark vereinfacht für die Ärzte, außerdem nutzen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung. Durch die elektronische Arztvernetzung haben Haus- und Fachärzte zum Beispiel Zugriff auf eine gemeinsam aktualisierte Medikationsinformation. Arztbriefe und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen können die Ärzte elektronisch ausstellen.

Halten Sie Digitalisierung auch in Form von Telemedizin für ein probates Mittel gegen den Ärztemangel? Ein erster Versuch in Spiegelberg ist im vergangenen Jahr auf geringes Interesse gestoßen.

Wir haben in verschiedenen Landkreisen ein Projekt mit Hautärzten gestartet, bei dem Hautveränderungen vom Hausarzt mit einer Kamera erfasst und zu einem Spezialisten übertragen werden, der diese dann begutachtet. So etwas ist aus meiner Sicht Teil der Zukunft und wird durch Corona noch einmal in einem neuen Licht betrachtet. Zu Beginn der Pandemie waren ja viele Arztpraxen leer, weil sich die Leute aus Angst vor Ansteckung nicht mehr zum Arzt getraut haben. Da, denke ich, kann Telemedizin schon unterstützen.

Alexander Schmid

Alexander Schmid stammt aus Esslingen. Nach dem Abitur hat er bei der AOK ein duales Studium zum Diplom-Sozialpädagogen absolviert. Anschließend war er in verschiedenen Funktionen bei der Bezirksdirektion Neckar-Fils tätig.

2014 wechselte Schmid als Geschäftsbereichsleiter Markt zur AOK Ludwigsburg/ Rems-Murr, zum 1. April 2020 beerbte er Geschäftsführerin Hiltrud Nehls und trägt damit die Verantwortung für 670 Mitarbeiter an 14 Standorten.

Der 48-Jährige lebt in Köngen im Kreis Esslingen. In der Freizeit ist er oft mit dem Fahrrad unterwegs, liest gerne und kümmert sich um seinen Garten.