Das Denken über Stress muss sich ändern

Dass mehr Beschäftigte an psychischer Belastung leiden, hat gesellschaftliche Kosten

Von Hanna Spanhel

Klagen über Dauerstress und Erschöpfung durch die Arbeit sind so normal geworden, dass viele sie nicht mehr ernst nehmen. Schon frühere Generationen hatten schließlich lange Arbeitstage. Und Stress ist nicht von vorneherein negativ: Kurzfristig kann er durchaus dabei helfen, Herausforderungen besser zu meistern oder auch mal über sich selbst hinauszuwachsen. Nur wenn keine Erholung in Aussicht ist, wird es problematisch.

Dass Schimpfen über Stress heute an der Tagesordnung ist, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass psychische Belastungen ein echtes Problem sind. Immer mehr Beschäftigte fallen hierzulande aufgrund von Erkrankungen wie Depressionen oder Burn-out im Job aus. Die Krankenkassen melden seit Jahren zunehmende Fehlzeiten aufgrund von seelischen Leiden. Sie sind – je nach Erhebung – der zweit- oder dritthäufigste Grund für Krankschreibungen und heute die mit Abstand häufigste Ursache dafür, dass Menschen vorzeitig in Rente gehen. Doch geändert hat sich wenig. Im Gegenteil: Die zunehmende Arbeitsverdichtung lässt vermuten, dass die Menschen hierzulande künftig immer noch mehr leisten sollen – in kürzerer Zeit.

Der Wandel der Arbeitswelt trägt zum chronischen Stress, zur andauernden psychischen Belastung vieler Beschäftigter bei – das bestätigen selbst Arbeitgeberverbände. Viele Dinge gleichzeitig zu erledigen, ständige Erreichbarkeit und permanente Unterbrechungen mögen auf den ersten Blick harmlos erscheinen. Arbeitsmediziner und Psychologen bestätigen allerdings: Über längere Zeithinweg kann dies zur ernsthaften Gesundheitsgefahr werden. Die Fähigkeit unseres Gehirns, immer mehr immer schneller zu bewältigen, ist begrenzt. Verschärft wird das durch prekäre, belastende Arbeitsverhältnisse, ein schlechtes Betriebsklima oder mangelnde Anerkennung und Unterstützung durch Führungspersonen. 36 Prozent der Beschäftigten berichten in einer AOK-Befragung von jobbedingter Erschöpfung.

Das hat einen Preis. Die Kosten für Krankenkassen und Rentenkasse steigen schon heute, ebenso wie jene für die Wirtschaft. Auf einen Wert von 12,2 Milliarden Euro im Jahr bezifferten Statistiker die Produktionsausfälle durch psychische Erkrankungen zuletzt. Das ist Grund genug für die Arbeitgeber, an der Arbeitswirklichkeit vieler Erwerbstätiger etwas zu ändern. Dabei geht es nicht darum, die Beschäftigten durch Sport- oder Achtsamkeitstrainings widerstandsfähiger oder gar noch leistungsfähiger zu machen. Vielmehr muss sich auch an den Bedingungen im Betrieb etwas ändern: Die Erreichbarkeit der Mitarbeiter etwa sollte klar geregelt werden, Zeit- und Zielvorgaben zur Umsetzung von Aufgaben müssen realistisch sein, und Beschäftigte sollten mitgestalten und sich entwickeln können. Einige Unternehmen machen das bereits vor – bei vielen sorgt das Thema aber noch für Stirnrunzeln. Dabei haben sie etwas von der Investition: Zufriedene Mitarbeiter sind kreativer – und das Unternehmen wird für Fachkräfte attraktiv.

Auch jeder selbst ist aber dafür verantwortlich, öfter mal das Smartphone beiseitezulegen oder Ausgleich zu suchen. Schon das Nachdenken über Stress, zeigen Studien, kann die körperliche Reaktion auf Herausforderungen verändern. Wer überzeugt ist, dass Stress positiv oder gar hilfreich sein kann, schüttet weniger Stresshormone aus und hat schneller wieder einen ruhigen Puls als jemand, der Stress als krank machend und unkontrollierbar empfindet. Eine andere Bewertung von belastenden Bedingungen kann man trainieren – ebenso wie eine gewisse Gelassenheit.

hanna.spanhel@stzn.de