„Das müssen die Leser aushalten“

Dekan Wilfried Braun spricht als Blattkritiker über die gesellschaftliche Verantwortung der Zeitung

„Das müssen die Leser aushalten“

Wilfried Braun (links) kann einige Parallelen zwischen Zeitung und Kirche finden. Foto: A. Becher

Von Silke Latzel

BACKNANG. Kirche und Tageszeitung – auf den ersten Blick haben sie nicht viel gemeinsam. Doch betrachtet man sie durch die Augen von Wilfried Braun, Dekan des evangelischen Kirchenbezirks Backnang, lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen, wie etwa die gesellschaftliche Verantwortung beider.

Braun ist Gast in der Redaktion der Backnanger Kreiszeitung, darf und soll seine ganz persönliche Meinung über das Blatt kundtun und auch mit Kritik nicht sparen. Bereits zum Frühstück liest er die BKZ, allerdings erst „nachdem ich in mein Losungsbüchlein geschaut habe“. Manchmal habe er bis zu einer Dreiviertelstunde Zeit für die Lektüre, manchmal nur ein paar Minuten – „das variiert von Tag zu Tag“.

Mit großem Interesse liest Braun im überregionalen Teil der Zeitung die Artikel rund um Weltpolitik, Wirtschaft und Technik. Ein Problem seiner Ansicht nach: die vielen schlechten Nachrichten über Katastrophen und die damit verbundene Hilflosigkeit vieler, die diese Artikel lesen. „Wenn früher etwa in der Zeitung stand, dass in einem Ort ein Haus gebrannt hat, dann ist man hingegangen und hat die Familie unterstützt, da konnte jeder Einzelne etwas tun und helfen. Das geht bei den weltweiten Katastrophen einfach nicht. Und das halten viele Menschen nicht mehr aus.“ Genau hier macht er den Unterschied zwischen den überregionalen Themen und dem Lokalbereich der Zeitung aus: „Über gute Dinge zu berichten, die hier in der Region passieren und den Menschen eine Identifikationsfläche bieten – wer sonst außer einer Lokalzeitung kann das machen?!“

Braun sieht in fast jedem Bereich der Zeitung einen Mehrwert für die Gesellschaft oder auch die Wertevermittlung. So liest er im Sportteil gern Berichte, die sich um das Thema Motivation drehen – oder ums Gewinnen und Verlieren, „denn es ist wichtig, dass die Jugend lernt, wie man damit umgeht“. Auf die Zahl der Sportseiten angesprochen lacht er und sagt: „Mal gibt es viel im Sport zu berichten, dann wieder weniger. Das sollte man einfach je nach Situation flexibel gestalten können.“ Berichte der SG Sonnenhof und auch des VfB Stuttgarts lese er allerdings immer.

Nicht nur beruflich, sondern auch privat interessiert er sich für die Todesanzeigen und misst ihnen ebenfalls eine hohe Wichtigkeit zu: „Sie geben den Menschen die Chance, Anteil zu nehmen am Tod eines Freundes oder Bekannten, und die Möglichkeit, sich zu verabschieden.“ Kritisch sieht Braun manche Gerichtsberichterstattung: „Sie ist generell wichtig. Aber die Medien tragen dabei auch große Verantwortung, denn sie müssen differenzieren und dürfen nicht in den Voyeurismus abrutschen.“

Dass die Zeitung ihre Pflicht als Vermittler kommunalpolitischer Themen nach wie vor wahrnehmen muss und diese Berichte auch nicht zurückfahren sollte, ist Brauns klare Meinung. „Es ist natürlich eine Herausforderung, auch die nicht ganz so spannenden Themen so aufzuarbeiten, dass sie interessant werden. Dasselbe muss ich bei manchen Themen in der Kirche auch machen. Es ist immer ein Spagat zwischen Wissensvermittlung und Spannung – aus diesem Dilemma kann ich Sie leider nicht erlösen“, sagt er lachend in die Runde der Redakteure. Ebenso wichtig findet er die Aufgabe der Meinungsbildung, die eine Zeitung hat: „Heutzutage herrscht allgemein Angst, Profil zu zeigen, weil die Rückmeldungen, die man bekommt, immer unhöflicher und beleidigender werden. Aber solange deutlich gekennzeichnet ist, dass es sich um einen Kommentar und somit um die Meinung eines Einzelnen handelt, ist das absolut richtig und wichtig. Das müssen die Leser aushalten, auch wenn die Meinungen vielleicht nicht ihrer eigenen entsprechen.“

Zum Bereich Leserbriefe sagt Braun: „Dass ich sie gerne lese, wäre übertrieben. Nicht nur, weil wir als Kirche ab und zu in der Kritik stehen. Ich verstehe, dass manche Menschen die Leserbriefe als Ventil brauchen, aber ich bin mir sicher, dass das, was die Leserbriefschreiber umtreibt, nicht den Querschnitt und die allgemeine Meinung der Gesellschaft abbildet.“ Er selbst diskutiere lieber von Angesicht zu Angesicht als über einen schriftlichen Schlagabtausch.

„Das müssen die Leser aushalten“