„Dem Heiligen Geist eine Chance geben“

Angesichts steigender Zahlen im Bereich der Kirchenaustritte in den vergangenen beiden Jahren stellt sich auch im Raum Backnang die Frage, was die Gründe sind und wie darauf zu reagieren ist. Wir haben uns bei lokalen Vertretern des Glaubens umgehört.

„Dem Heiligen Geist eine Chance geben“

Auch in einigen evangelischen und katholischen Gemeinden im Raum Backnang war der Anstieg der Kirchenaustrittszahlen in den beiden vergangenen Jahren spürbar. Fotos: A. Becher (3), J. Fiedler (1)

Von Bernhard Romanowski

BACKNANG. Für manche ist es eine Gewissensfrage, die sie sehr beschäftigt, für andere wiederum ist es kaum mehr als ein Federstrich bei der zuständigen Behörde: der Austritt aus der Kirche. In den beiden vergangenen Jahren stieg die Zahl der Kirchenaustritte bundesweit signifikant an. Wir haben uns einmal umgehört, wie es sich damit im Rems-Murr-Kreis, insbesondere im Raum Backnang, verhält.

Wilfried Braun, der Dekan des evangelischen Kirchenbezirks Backnang, weiß um die Zahlen. Auch in den Gemeinden in und um die Murr-Metropole sei die Anzahl der Kirchenaustritte in den beiden vergangenen Jahren angestiegen. Auf die Verteilung in den einzelnen Gemeinden angesprochen, sei ein Stadt-Land-Gefälle zu beobachten.

Während vergangenes Jahr 141 Menschen in Backnang aus der evangelischen Kirche austraten, seien es etwa in Fornsbach 0,4 Prozent gewesen, von den 700 Mitgliedern seien drei ausgetreten. „Aber auch die drei tun weh“, bekundet der Dekan. 2019 habe die Austrittsquote in Backnang und Murrhardt deutlich über einem Prozent gelegen (siehe Infokasten). „Aber hier muss man auch einfach beachten: 99 Prozent bleiben drin“, so Brauns Ansatz mit Blick auf das Positive. Von einem galoppierenden Absturz könne also keine Rede sein, auch sei die Entwicklung nicht so gravierend wie im Bereich der politischen Parteien, die seit etlichen Jahren mit erheblichem Mitgliederschwund zu kämpfen haben.

„Wenn ein Pfarrer jemanden persönlich getauft hat und dessen Austritt miterlebt, oder wenn er ein Mitglied der Familie beerdigt hat und der Bezug zu den Angehörigen gegeben ist, dann ist das sehr schmerzlich“, schildert der Dekan weiter. Die persönliche Enttäuschung sei in den seltensten Fällen der Grund für einen Austritt, so Brauns Erfahrung. Es ist eher ein gesellschaftliches Phänomen, eine Art Trend, der sich statistisch abzeichne. „Mir fällt auf, dass immer weniger Leute wissen, wozu man die Pfarrer holen kann. Wenn zum Beispiel ein Elternteil nach langer Krankheit stirbt und die Pfarrer die Angehörigen fragen, warum man sie nicht gerufen habe, sind die Hinterbliebenen oft erstaunt: ‚Wie, dazu wären Sie auch gekommen?‘ Vielen ist nicht bewusst, dass sie in vielen familiären Situationen auf die Pfarrer zurückgreifen können“, erzählt Braun und formuliert einige Fragen in diesem Zusammenhang: „Müssen wir mehr informieren? Müssen wir materiell helfen, also etwa bei der Suche nach einem Pflegeheim oder bei der Versorgung mit pastoralen Angeboten, bei seelischen Problemen?“ Das sei eine große Herausforderung.

Innerhalb der evangelischen Kirche werde überlegt, wie darauf reagiert werden könne, ohne aufdringlich zu wirken. Denn, so Braun: „Wir sind nicht gut im Eigenlob.“ Wilfried Braun war sechs Jahre lang Mitglied der Landessynode. Der Begriff Mitgliederbindung sei hier ein Unwort. Auch er persönlich tue sich mit dem Begriff schwer. „Die Leute sollen von sich aus bleiben. Wir sind doch die Kirche der Freiheit“, sagt Braun voller Überzeugung in der Stimme.

„Zur Freiheit gehört auch die Möglichkeit, sich gegen die Mitgliedschaft zu entscheiden.“

Jemand habe einmal zu ihm gesagt, dass die Predigten in der Kirche so langweilig seien, erzählt er. Es stellte sich heraus, dass derjenige seit Jahrzehnten keine Predigt mehr in der Kirche gehört hatte.

Und Braun gibt noch eine Anekdote aus eigenem Erleben preis. Demnach saß ein Mann mittleren Alters einige Wochen lang immer an der gleichen Stelle in der Kirche. Braun sprach ihn an. Der Mann erklärte, einen Deal mit Gott gemacht zu haben. Er werde sich ein Jahr lang angucken, was in den Gottesdiensten passiert. Danach werde er entscheiden, ob er Mitglied bleibe. Er wurde dann eines der aktivsten Mitglieder des Kirchenbezirks Backnang, wie der Dekan schildert: „Ich fände es schön, wenn die Leute dem Heiligen Geist öfter eine Chance gäben.“ Die Frage, was seitens der Pfarrerschaft angesichts steigender Austrittszahlen zu tun sei, bleibe schwierig zu beantworten. In der Entwicklung entsprechender Strategien dürfe die evangelische Kirche aus seiner Sicht keinesfalls von der reformatorischen Leitlinie als „Kirche der Freiheit“ abweichen, mahnt der Dekan. Und zur Freiheit gehöre dann eben auch die Möglichkeit, sich gegen die Kirchenmitgliedschaft zu entscheiden. Braun: „Meines Erachtens können wir angestiegenen Kirchenaustrittszahlen nur so begegnen, dass wir uns bemühen, bleibend qualitativ guten Dienst zu tun und dem Vorbild Jesu entsprechend die auf der Schattenseite der Gesellschaft Stehenden besonders im Blick zu behalten.“

„Die Kirchengemeinden in Backnang seien sicher stärker betroffen, aber auch Rudersberg und Weissach ragen heraus“, konstatiert Marcel Dagenbach, der geschäftsführende Referent des Katholischen Dekanats Rems-Murr. In Oppenweiler beispielsweise hätten sich die Austrittszahlen leicht verringert, in Kirchberg an der Murr gebe es nur einen minimalen Anstieg, ebenso in Murrhardt. In Sulzbach an der Murr wiederum sei ein stärkerer Anstieg der Austritte zu verzeichnen, so Dagenbach mit Blick auf die Statistik. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, setze sich ein bedauerlicher Trend fort, der den diözesanen Trend noch etwas übertreffe. Er persönlich findet es sehr schade, wenn sich Menschen von der Kirche abwenden, auch wenn es dafür sicherlich gute Gründe geben könne, so Dagenbach.

Er hofft, dass die Relevanz von Kirche wieder mehr entdeckt werde und die Kirche es zugleich schaffe, ihre Bedeutung für ein gelingendes Leben wieder mehr herauszustellen. Leider werde die Kirche – bei allen positiven Veränderungen der letzten Jahre – immer fehlerhaft bleiben und zudem auch nicht alle Wünsche nach Veränderung erfüllen können.

Der katholische Backnanger Pfarrer Wolfgang Beck lässt sich von der Statistik nicht allzu sehr behelligen: „Zahlen haben für mich nicht die große Bedeutung. Ich zähle keine Austritte, jedoch auch keine Taufen und Beerdigungen. Aber jeder Austritt stimmt mich ein wenig traurig, und ich bedaure es.“

Beck bestreitet nicht, dass es vielfältige Gründe für einen Austritt geben mag und mancher Grund vielleicht gut nachvollziehbar sei. „Die Kirche macht auch Fehler, freilich nicht nur“, so Becks Einschätzung. Ob es indessen die Kirchensteuer in 100 Jahren noch geben werde, sei sicher. Selbst wenn dadurch, dass es der Kirche gut gehe, es auch vielen Menschen auf der weiten Welt gut gehe. Kirche – ganz offen gedacht, nicht nur als katholische – sei notwendig zum Transport für das Evangelium. Sie müsse aber auch offen bleiben für Veränderungen, denn sie dürfe sich nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch von der Zukunft her definieren. Kirche sei aber nicht heilsnotwendig, räumt Pfarrer Beck ein: „Den Himmel haben wir nicht zu verteilen.“

Die Welt sei durch die Fehler und auch die Schuld, die die Kirche gemacht und auf sich geladen hat, anders geworden. Auch das subjektive Empfinden habe einen ganz anderen Stellenwert im Denken als früher. Dazu komme jetzt noch Corona, wodurch auch wirtschaftliche Aspekte für den einen oder andern existenzentscheidend würden. „Ich meine, unsere Aufgabe als Kirche und als Christen gleichermaßen wird sein, uns zu vernetzen mit allen Menschen guten Willens und gemeinsam zu handeln mit anderen Systemen, die gut sind“, blickt Beck voraus und nennt als Aufgabe der Kirche auch, als soziales Gewissen zu mahnen, wenn die Gesellschaft oder die Wissenschaft vom Menschlichen abdrifte hin zu reinen Machbarkeitsaspekten und egoistischem Nutzdenken.

Nicht zuletzt sei es ihre Aufgabe, noch mehr zu dienen, Dienstleister sein, ohne darauf zu achten, wer Kirchensteuer zahlt und wer nicht, meint Beck: „Der in Not ist, ist der, für den die Kirche da sein muss. Ich denke, so wird sie Zukunft haben, als vielleicht unangenehme Mahnerin und Zeitgenossin, als Freundin und als Freundin der Armen und der in Schwierigkeiten sich Befindenden.“

Julius Ekwueme, der die katholische Seelsorgeeinheit Oppenweiler-Kirchberg als Pfarrer leitet, empfindet die Kirchenaustritte ebenfalls als betrüblich, findet jedoch: „Es ist klar, dass wir auch neue Mitglieder gewinnen müssen. Aber man darf auch nicht vergessen, dass die ,Stammgäste‘ immer noch da sind. Viele der Ausgetretenen gehörten nicht unbedingt zu den Leuten, deren Gesicht man kannte. Sie waren vielfach nicht aktiv am Leben der Kirchengemeinde beteiligt“, so Ekwuemes Erfahrung.

Vielfach hätten die Ausgetretenen schlicht finanzielle Bedenken bezüglich der Kirchensteuer. „Wir haben kein Geld dafür, sondern müssen erst einmal das Nötigste bezahlen“, habe er mehrfach von jungen Leuten gehört. Aber Kirche gehöre zum Nötigsten, betont Ekwueme. Die Bindung zur Kirche habe in der Wohlstandsgesellschaft stark nachgelassen. „Eine Bindung, die unsere Vorfahren aufgebaut haben, um unserem Leben einen Halt zu geben“, meint der Oppenweiler Pfarrer.

„Dem Heiligen Geist eine Chance geben“

Wilfried Braun

„Dem Heiligen Geist eine Chance geben“

Julius Ekwueme

„Dem Heiligen Geist eine Chance geben“

Wolfgang Beck

Kommentar
Noch keine Welle

Von Bernhard Romanowski

Zahlen lügen nicht, heißt es oft. Aber was sagen sie im Fall der Kirchenaustritte wirklich aus? Die Gründe für die Austritte spiegeln sie nicht wider. Die Qualität und Intensität der Seelsorge und des Gemeindelebens kommt in diesen Zahlen auch nicht zum Ausdruck. Und wie gesund und gedeihlich die Strukturen in den einzelnen Gemeinden auch über Gottesdienst und Predigt hinaus sind, lässt sich damit ebenfalls nicht beziffern. Das große Engagement vieler gläubiger Menschen wird darin nicht reflektiert. Evangelische wie katholische Kirche wissen sich mit Blick auf dieses Engagement auf einem starken Fundament. Dennoch dürfen sie die Zahlen, die letztlich doch für Menschen stehen, nicht ganz ausblenden: Damit aus einem vagen Trend keine echte Welle wird.

b.romanowski@bkz.de

Austrittszahlen im Raum Backnang

22 Kirchengemeinden gehören zum evangelischen Kirchenbezirk Backnang , dessen Dekanatamt von Wilfried Braun geleitet wird. Der Kirchenbezirk Backnang gehört zur Prälatur Heilbronn und zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg.

2017 verzeichnete der evangelische Kirchenbezirk Backnang mit seinen rund 40000 Mitgliedern 350 Austritte. Der Bezirksdurchschnitt lag bei 0,87 Prozent Austritten. In Backnang mit seinen 13000 evangelischen Kirchenmitgliedern traten 139 Menschen aus, in Murrhardt (4500 Mitglieder) waren es vor drei Jahren 37 Menschen, die aus der evangelischen Gemeinde austraten.

2018 wurden im evangelischen Kirchenbezirk Backnang insgesamt 406 Austritte verzeichnet. 2019 waren es indessen schon 482 Austritte. In Backnang alleine traten 141 Menschen aus, in Murrhardt 34. Die Bezirksquote lag vergangenes Jahr bei 1,2 Prozent.

Die 27 Kirchengemeinden im Rems-Murr-Kreis und die sieben muttersprachlichen (italienischen, kroatischen und portugiesischen) Gemeinden sind in elf Seelsorgeeinheiten als Dekanat Rems-Murr zusammengefasst. Hier wurden insgesamt 897 Austritte im Jahr 2018 verzeichnet, die meisten davon in Fellbach (84), Schorndorf (93), Winnenden (50) und Waiblingen (56).

2019 stieg der Zahl der Austritte aus dem Dekanat Rems-Murr auf 1155. Die Gemeinden in Fellbach, Schorndorf und Winnenden lagen diesbezüglich wieder an der Spitze. Aber auch in den beiden katholischen Gemeinden in Backnang war der Anstieg deutlich erkennbar.

Die Christus-König-Gemeinde der Murr-Metropole wies 2018 noch 20 Austritte auf, 2019 waren es hier schon 34. Die Gemeinde St. Johannes Baptist (2018: 31 Austritte) wies 57 Austritte im Jahr 2019 auf.