35 Jahre nach der deutschen Einheit nimmt die Tendenz zur Spaltung zu. Dem gilt es, beherzt zu begegnen.
Von Eidos Import
Wie steht’s um die deutsche Einheit? Sagen wir so: Sie besteht! Auf dem Papier allemal. Und wenn’s bei der Fußball-Nationalmannschaft zwischendurch mal wieder läuft – salopp formuliert. Seit 35 Jahren ist das so. Seit jenem 3. Oktober 1990, als Deutschland durch den Beitritt der DDR, deren Bewohnern die einzig erfolgreiche friedliche Revolution in der deutschen Geschichte geglückt war, eine Einheit wurde. Von Anfang an verband sich damit die Hoffnung, der äußeren Einheit würde die innere folgen und darüber dann auch ungeteilte Freude herrschen.
Heute erleben wir, dass die Entwicklung in eine andere Richtung geht. Seit längerem schon. Die Dinge driften auseinander, wobei sich diese Entwicklung nicht mehr primär in Ost-West- oder West-Ost-Richtung vollzieht, sondern quer durch die Gesellschaft. Das zeigt sich etwa in der Akzeptanz von Vielfalt. Nach einer Erhebung der Robert-Bosch-Stiftung haben sich die Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern ethnischer und religiöser Vielfalt in Deutschland im Vergleich zu 2019 vertieft.
Ein nicht kleiner Teil der Bundesbürger lehnt Vielfalt ab – als beruhe der Einheitsgedanke auf Homogenität und nicht auf Diversität. Gleichzeitig beobachtet Bernhard Straub, der Geschäftsführer der Stiftung, eine Stärkung der gesellschaftlichen Extreme: hier Sprachlosigkeit, dort Entrüstung. In diesem Reizklima bleibt der Dialog auf der Strecke.
Und die Demokratie? Wie steht’s um sie? Dieselbe Antwort wie bei der Einheit: Ja, sie besteht. Doch sie wirkt zunehmend blutleer, als hätten viele die Lust an ihr verloren. Oder den Glauben an die beste aller Regierungsformen, was sie zweifellos ist. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Vertrauen. Die Umfrage der Bosch-Stiftung deutet darauf hin, dass hier substanziell etwas „ins Rutschen gekommen ist“. So sind viele Bürger der Ansicht, dass man in Deutschland seine Meinung heute nicht mehr frei äußern darf. In Baden-Württemberg denken das 55 Prozent. Ernsthaft? Als meinungsfreudiges Medium haben wir diese Erfahrung in fast 80 Jahren Zeitungsgeschichte nicht gemacht.
Weil die Gefahr besteht, dass sich dieses Denken verfestigt, ist es wichtig, die spaltenden und demokratiegefährdenden Faktoren zu identifizieren und ihnen zu begegnen. Die Corona-Pandemie ist da zu nennen und der damit verbundene massive Vertrauensverlust. Dazu kommen die allgemeine Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise und die globalen Bedrohungen, die manche Zuflucht in autokratischem Denken suchen lassen. Verunsichernd wirkt auch die Delegitimierung von Demokratie und ihren Akteuren, wie sie gegenwärtig in den USA stattfindet. Ausgerechnet in dem Land mit der längsten demokratischen Tradition ist „Demokrat“ zu einem Schimpfwort von Trumps Maga-Bewegung geworden.
Auch sonst ist es in Mode, die Schwächen der Demokratie zu betonen und sie herabzuwürdigen. Höchste Zeit also, ihre Stärken – individuelle Freiheitsrechte, Mitbestimmung, Teilhabe und vieles andere mehr – herauszustellen. Nicht in Feiertagsreden, sondern mit Alltagshandeln. Jeder ist hier gefordert, denn Demokratie lebt vom Mitmachen und nicht vom Zuschauen. Man muss sie leben – und erlernen.
Wir brauchen mehr Demokratiebildung. Das schließt die Fähigkeit zum Zuhören und Argumentieren mit ein. Glücklicherweise gibt es viele Beispiele, die Mut machen und hoffentlich auch Schule. Der soeben verliehene Deutsche Schulpreis, der neuerdings auch demokratisches Engagement belohnt, gehört dazu. Das zeigt: Demokratie beginnt im Kleinen. Im besten Fall erwächst daraus eine Einheit, die den großen Herausforderungen standhalten kann.