Kürzere Wartezeiten und eine bessere Ärzteversorgung auf dem Land – das will Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit seinem neuen Terminservice- und Versorgungsgesetz erreichen. Geplant sind unter anderem finanzielle Anreize für Ärzte, die mehr Patienten behandeln. Wolfgang Steinhäußer glaubt allerdings nicht, dass das funktioniert. Das Problem sei nicht, dass die Ärzte zu wenig arbeiten, sondern dass es zu wenige gibt, sagt der Vorsitzende der Ärzteschaft Backnang im Interview.
„Wir sind Selbstständige, arbeiten aber wie Angestellte der Krankenkassen“, sagt Wolfgang Steinhäußer. Der Allgemeinmediziner und Geschäftsführer der Backnanger Notfallpraxis mag die Arbeit mit den Patienten, verzweifelt aber bisweilen an der Bürokratie. Foto: A. Becher
Von Kornelius Fritz
Herr Dr. Steinhäußer, wie viele Stunden Sprechstunde pro Woche bieten Sie an?
Ich habe etwa 23 Stunden Sprechstunde plus Hausbesuche am Nachmittag. Außerdem habe ich noch zwei Nebenjobs als Vorsitzender der Ärzteschaft und als Geschäftsführer der Notfallpraxis.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will die Mindestsprechzeiten für Kassenärzte von 20 auf 25 Stunden pro Woche erhöhen. Das klingt nicht wirklich viel. Warum gibt es Ärzte, die weniger Sprechzeiten haben?
Es gibt nur ganz wenige Ärzte, die weniger Sprechstunden anbieten. Die Kassenärztliche Vereinigung hat eine Umfrage unter mehr als 4000 Ärzten in Baden-Württemberg gemacht, davon sagen 93,7 Prozent, dass sie schon heute mehr als 25 Stunden pro Woche arbeiten.
Das heißt, die Gesetzesänderung läuft ins Leere?
So ist es. Ich persönlich halte das für populistisch. Da soll der Bevölkerung signalisiert werden: Wir tun etwas. Damit wird aber nur der Ärztemangel kaschiert, den es schon seit Langem gibt, auch in Backnang. Auffällig ist, dass immer nur über die Angebotsseite geredet wird. Man müsste aber auch mal über die Nachfrage sprechen: Die Deutschen sind Weltmeister im Zum-Arzt-Gehen, im Schnitt zehnmal im Jahr. Wenn wir die chronisch Kranken hinzuzählen, sind wir sogar bei 18 Arztbesuchen im Jahr – mehr als in allen europäischen Nachbarländern, und da ist die Bevölkerung ja nicht weniger krank.
Woran liegt das?
Ich denke mal, das ist die deutsche Gründlichkeit. Und es hat bestimmt auch etwas damit zu tun, dass viele Menschen kein Gefühl mehr dafür haben, was eine ernsthafte und was eine banale Erkrankung ist. Dieses Wissen wird in den Familien nicht mehr weitergereicht und geht verloren. Die Menschen fragen dann Doktor Google und da ist klar, was herauskommt: Die Kopfschmerzen sind ein Hirntumor und der Schwindel auf jeden Fall ein Schlaganfall. Und dann werden wir natürlich gefragt. Hinzu kommen die ganzen Vorsorgeuntersuchungen: Herz-Kreislauf-Vorsorge dürfen Sie schon ab 18 Jahren machen. Ob das sinnvoll ist? Untersuchungen zeigen, dass die Menschen deswegen nicht länger leben, weil in der Regel diejenigen zur Vorsorge gehen, die sowieso gesundheitsbewusst leben.
Ein Teil des Problems ist das „Ärztehopping“: Manche Patienten gehen mit ihren Beschwerden zu mehreren Ärzten. Sind Sie für eine Pflicht, immer zuerst zum Hausarzt zu gehen?
Das wäre ein großer Gewinn. Der Hausarzt kann der Lotse sein, denn wenn die Patienten das Telefonbuch aufschlagen, wissen sie ja oft gar nicht, welcher Facharzt der richtige ist. Internisten gibt es viele, aber nicht jeder ist der passende Spezialist für mein Krankheitsbild. Die Schweiz macht es uns vor: Dort müssen sich Patienten zunächst telefonisch anmelden. Viele Banalitäten können auch telefonisch behandelt werden. Ich würde außerdem einführen, dass Arbeitnehmer generell erst nach drei Tagen eine Krankschreibung benötigen. In diesen Tagen kommen viele Menschen nämlich nur, weil sie eine Krankschreibung brauchen. Die wollen von mir gar keinen medizinischen Rat. Wenn sie aber schon mal da sind, muss ich sie natürlich auch anständig untersuchen, um nichts zu übersehen.
Ziel der Gesetzesinitiative ist es, die Wartezeiten auf einen Termin beim Facharzt zu verkürzen. Wie lange muss ich im Raum Backnang warten, wenn ich einen Termin bei einem Spezialisten bekommen will?
Die längste Wartezeit gibt es hier beim Herzspezialisten. Da dauert es etwa ein halbes Jahr, wenn nichts Dringliches vorliegt. Dringliche Termine bekommt man natürlich schneller. Ich sehe einen Widerspruch: Einerseits schreibt uns der Gesetzgeber vor, dass unsere Versorgung wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig sein soll – also Basisversorgung. Gleichzeitig verspricht Minister Spahn den Patienten: Du musst nicht warten und bekommst Maximalversorgung. Und wenn es Wartezeiten gibt, dann liegt es daran, dass die Ärzte zu wenig arbeiten. Das neue Gesetz suggeriert den Menschen: Die Ärzte gehen viel zu früh auf den Golfplatz.
Gesundheitsminister Spahn will finanzielle Anreize schaffen, etwa für Ärzte, die neue Patienten aufnehmen oder solche, die offene Sprechstunden ohne Terminvergabe einführen. Glauben Sie, dass solche Boni helfen werden, die Wartezeiten zu verkürzen?
Wenn wir zusätzliche Sprechstunden anbieten sollen, müssen wir die Zeit woanders abzweigen. Da ist nicht mehr viel Potenzial zu heben, weil die allermeisten Ärzte sowieso schon maximal viel Zeit in ihrer Praxis verbringen. Das wäre allenfalls ein Umschichten von Terminen: Wenn ich jetzt gesonderte Termine frei halten muss, dann muss ich die eben woanders wegnehmen.
Aber Privatpatienten bekommen doch auch schneller Termine?
Da gibt es tatsächlich Unterschiede, aber wenn die Politik sagt, sie möchte das ausmerzen, dann geht das an der Realität vorbei. Viele Praxen brauchen zum Überleben Privatpatienten, weil manche Kassenleistungen gar nicht kostendeckend sind. Ein Beispiel sind Magenspiegelungen: Da legen die Ärzte zum Teil noch drauf.
Aber ist eine solche Zwei-Klassen-Medizin denn wünschenswert?
Die gab es aber schon immer. Wenn die Politik das nicht mehr möchte, dann muss sie die private Versicherung abschaffen. Aber private Kassen zuzulassen und den Menschen dann zu verwehren, dass sie für höhere Beiträge unter Umständen auch bessere Leistungen bekommen, ist unredlich.
Um als Kassenarzt tätig zu sein, braucht man eine Zulassung, die man nur bekommt, wenn man entweder eine bestehende Praxis übernimmt oder in dem jeweiligen Gebiet eine Unterversorgung besteht. Wie ist die Ärzteversorgung im Raum Backnang?
Die Facharztsitze sind alle belegt, wobei auch die Fachärzte merken, dass es immer mühsamer wird, eine Nachfolge zu finden. Akuter Bedarf besteht aber bei den Hausärzten. Da werden wir jetzt an den Punkt kommen, wo manche Praxen nicht mehr nachbesetzt werden können. Dabei bräuchte man für einen ausscheidenden Arzt heutzutage eigentlich zwei bis drei nachrückende. Nicht, weil die Nachrücker wenig arbeiten, sondern weil sie ganz normal arbeiten wollen: Wer Familie hat, möchte vielleicht nicht mehr 60 Stunden pro Woche in der Praxis verbringen, sondern nur 40.
Für die Niederlassung weiterer Fachärzte ist der Rems-Murr-Kreis gesperrt. Trotzdem hört man immer wieder, dass sich etwa Frauen, die einen Gynäkologen suchen, schwertun, weil viele keine neuen Patientinnen mehr aufnehmen. Gibt es also doch zu wenige?
Die Bedarfszahlen, die für die Zulassungen maßgeblich sind, stammen von anno dunnemals. Ich glaube, die sind 15 Jahre alt. Aber die Bevölkerung ist im Raum Backnang seitdem gewaltig gewachsen. Das wird dort ebenso wenig berücksichtigt wie das veränderte Verhalten der Patienten. Angesichts des Ärztemangels, auch bei Fachärzten, sind diese Begrenzungen aus meiner Sicht sowieso von gestern. Wir sollten froh sein, wenn sich Fachärzte niederlassen. Und dass das Angebot die Nachfrage in die Höhe treibt, ist eine Mär.
Was muss passieren, damit auch wieder junge Ärzte bereit sind, sich niederzulassen?
Ich glaube schon, dass sich Studienabgänger für eine Niederlassung interessieren, aber in modernerer Form, etwa in medizinischen Versorgungszentren oder Gemeinschaftspraxen. Ich denke, die klassische Einzelpraxis wird aussterben. Ein weiteres Problem ist die Bürokratie: Der Anteil der Schreibtischarbeit nimmt stetig zu. Es wird uns zwar ständig versprochen: Wir bauen das ab. Aber es wird immer mehr. Und natürlich die leidige Sache mit der Bezahlung: Man möchte alles immer billiger haben, stellt gleichzeitig aber immer mehr Forderungen. In meinen Augen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen wir für die Gesundheit mehr Geld aufwenden oder wir müssen für das gleiche Geld die Leistungen senken.
Früher galten Ärzte als Halbgötter in Weiß, heute hört man zunehmend Klagen. Wenn Sie die Wahl hätten: Würden Sie sich noch einmal für diesen Beruf entscheiden?
Unbedingt! Es ist der schönste Beruf der Welt, aber es gibt einfach unsinnige Dinge, die uns das Leben schwer machen. Dagegen müssen wir uns wehren, denn einerseits nennt man uns Selbstständige, aber eigentlich arbeiten wir wie Angestellte der Krankenkassen.