Der Bach ruft

Sommerreportage: Ein Nachmittag in der Hörschbachschlucht – Abenteuer und Begegnungen im wildromantischen Naturschutzgebiet in Murrhardt

Wohin an einem Sommertag mit Temperaturen über 30 Grad? Warum nicht mal Abkühlung in der Hörschbachschlucht in Murrhardt suchen und die Ruhe in der Natur genießen? Gedacht, getan. Abkühlung und Ruhe sind in diesem Zusammenhang aber relativ. Zahlreiche Ausflügler sind auf den verschiedenen Routen vom Vorderen zum Hinteren Wasserfall unterwegs. Und wer sich für den Bachweg entschieden hat, kommt ordentlich ins Schwitzen. Wildromantik ist dort mit ziemlich viel Anstrengung verbunden.

Der Bach ruft

Beim fünf Meter hohen, hufeisenförmigen Vorderen Wasserfall in der Murrhardter Hörschbachschlucht finden die Ausflügler zwar keine Ruhe, aber doch ein wenig Abkühlung im oder am Bach. Fotos: I. Knack (6), J. Fiedler (1)

Von Ingrid Knack

MURRHARDT. Am Sonntag ging es bei den Wasserfällen zu wie in Stuttgart auf der Königstraße, sagte eine Kollegin unlängst sinngemäß. Unser Fotograf lieferte den Beweis: Ruhe und Einsamkeit waren an jenem Tag nicht angesagt in der urwüchsigen Hörschbachschlucht, die als Naturdenkmal und Naturschutzgebiet ausgewiesen ist. Wie aber sieht es an einem ganz normalen Werktag aus?

Auf dem Parkplatz 2 stehen 18 Autos. Angesichts der Kennzeichen ist klar: Die Ausflügler kommen nicht nur aus dem Rems-Murr-Kreis, sondern auch aus den Landkreisen Heilbronn, Aalen, Ludwigsburg, Böblingen oder gar aus dem Kreis Düren in Nordrhein-Westfalen. Ein wirklicher Exot unter den Automobilen ist aber der Wagen aus Großbritannien, genauer aus Swansea in Südwales.

Bis zum Vorderen Wasserfall sind es nur ein paar Meter. Cristina Ricotta ist dort gerade mit ihren Eltern unterwegs. Die 21-Jährige studiert in Stuttgart Wirtschaftswissenschaften und ist in den Semesterferien einige Zeit bei ihren Eltern in Untereisesheim zu Besuch. Um ein schönes Plätzchen in der Natur zu finden, hat sie einfach mal gegoogelt. Und stieß dabei auf die Hörschbachschlucht.

Als die Familie außer Sichtweite ist, geht’s weiter auf dem Naturpfad links und rechts des Bachs. Der Naturpfad macht seinem Namen alle Ehre. Es gilt, über keine Wurzel zu stolpern, und anfangs gibt man vielleicht noch bei den matschigen Passagen auf seine Schuhe acht. Aber es wird noch extremer. An einer Stelle führt der Weg praktisch direkt durch den Bach. Als „Gehhilfe“ dienen ein paar äußerst glitschige Steine. Wohl dem, der Meister im Balancieren ist. Auf der anderen Seite wird’s nicht besser. Der August 2019 wird sicher nicht als einer der trockensten Monate ever in die Geschichte eingehen, in den letzten Tagen hat es heftig geregnet. Thomas Zeeb, der beim Amt für Wirtschaft, Kultur und Tourismus bei der Stadt Murrhardt für die Tourismusförderung verantwortlich ist, wird später erklären: Da es sich um ein Naturschutzgebiet handelt, darf man „wenig bis fast gar nichts“ an den Wegen machen. Und Bürgermeister Armin Mößner weiß: Nach jedem Starkregen sieht die Natur in der Schlucht anders aus. Mößner kann sich auch noch gut an Unwetterereignisse wie das im Jahr 2016 erinnern. Auf manchen Wegen ging plötzlich beispielsweise durch Hangrutschungen oder umgefallene Bäume gar nichts mehr. Der gewöhnlich beschaulich dahinfließende Hörschbach entwickelte sich zu einem außer Rand und Band geratenen Wildbach, der Brücken mitriss und in der Murrhardter Innenstadt für Hochwasser sorgte.

Die Profis, so wird bald klar, hangeln sich auf unwegsamem Gelände nicht halb kletternd, halb schwankend über Steine oder einen Hügel hoch, sondern stapfen gleich durch den Bach. Mittlerweile dürfte auch dem ungeübten Schluchtwanderer egal sein, dass seine Schuhe völlig durchnässt werden – Vorteile des Wegs direkt durch den Bach gibt es einige: Die hoffnungslos verdreckten Schuhe werden wieder sauber, im Wasser ist es verhältnismäßig ungefährlich und außerdem kann man so viel besser die atemberaubende Landschaft genießen. Spätestens wenn man den Begriff „Bachweg“ wörtlich nimmt, stellt sich auch die Frage nicht mehr, ob es wirklich eine so gute Idee war, nicht den Hang-, sondern den Bachweg gewählt zu haben.

Auch die Wanderer aus den USA ließen sich durch Google inspirieren

Wo schon kann man so etwas erleben? Ein Hauch von Canyoning-Gefühl stellt sich ein. Doch im Gegensatz zu den Abenteurern, die dem Extremschluchtenwandern frönen, das sogar Taucheinsätze nötig machen kann, befinden wir uns hier auf einem Sonntagsspaziergang.

Froh gelaunt kämpfen sich John Harford und Diana Resel durch die Wildnis. „Hello“, sagen sie beim Vorbeigehen – mit unverkennbar amerikanischem Akzent. Sind sie die Besitzer des in Südwales gemeldeten Autos? Die beiden winken ab. Sie sind in Philadelphia zu Hause. Freunde von ihnen wohnen in Weinsberg. Auch die Amerikaner sind bei Google auf die Schlucht gestoßen. Mit einem Mietwagen sind sie hierhergekommen. Auf die Frage, ob ihnen die Gegend gefällt, meint John: „Look and see, what’s around.“ Auch die Reisenden aus dem Land der spektakulären Naturwunder sind also überwältigt von dem, was sie in Murrhardt vorfinden: „Schau dich um, was um uns geboten ist.“

An Fröhlichkeit nicht zu überbieten ist die kleine Wandergruppe aus Remshalden: Daniel Böhm, Ingrid Hoffmann und Elke Redmann sind mit der siebenjährigen Irina und der achtjährigen Natalie unterwegs. Irina hat sich den Arm gebrochen. Deshalb sind Freibadbesuche momentan gestrichen. Freunde haben der Familie die Hörschbachschlucht empfohlen. Hier stört der Gips weniger. „Toll, der Matsch an den Füßen“, sagt Irina lachend. Und im Wasser planschen steht nach dem Marsch durch die Schlucht auch noch auf dem Plan. Daniel Böhm dagegen gefällt, dass man hier ungestört ist, weil es keinen Handyempfang gibt.

Die Unerreichbarkeit hat aber auch eine andere Seite. Zwischen zwei und vier Notfällen gibt es laut Zeeb jedes Jahr in der Schlucht. Bis vor Kurzem war es für die Rettungskräfte nicht immer leicht, die Verletzten zu finden. Die Angaben der Zeugen des Unglücks, die sich erst aus dem Netz-Niemandsland hatten kämpfen müssen, waren oft nur vage. Die Feuerwehr entwickelte deshalb ein Rettungssystem in Abstimmung mit der Stadt. In der Schlucht finden die Wanderer jetzt Schilder mit der Angabe, in welchem der drei Rettungsbereiche sie sich gerade befinden. Setzt nun ein Zeuge eines Unglücks den Notruf ab, nennt die Zahl des entsprechenden Rettungsbereichs und bestenfalls noch den jeweiligen Rettungspunkt an den Wegen zur Schlucht, für den die Rettungsleitstelle die GPS-Daten hat, verlieren die Rettungskräfte nicht unnötig Zeit.

Obwohl das Schluchterlebnis nicht ungefährlich ist, sind alle Wanderer auf dem Bachweg zwischen dem Vorderen und Hinteren Wasserfall völlig unbeschwert unterwegs. Darunter Anja Weidlich und Sinan Yilmaz aus Erdmannhausen, die gerade mit der Schule fertig sind, Familie Schick aus Auenwald mit ihrem Besuch aus Rumänien und Tamara Wachtler und Christine Huber aus Beilstein mit dem einjährigen Samuel in der Kindertrage. Auf dem Rückweg lächelt uns noch Familie Hirschmann aus Asperg an, für den kleinen Yan ist das Laufen im Bach weltklasse.