„Der Druck macht unsere Kinder krank“

Als die Coronapandemie ausbrach, war schnell klar, dass Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen Kinder und Jugendliche seelisch belasten können. Bei hiesigen Einrichtungen, die Betroffenen psychologische Hilfe anbieten, werden die Folgen in der Praxis sichtbar.

„Der Druck macht unsere Kinder krank“

Angst, Depression, abgehängt in der Isolation: Die Maßnahmen im Zuge der Pandemie haben bei Jugendlichen Spuren hinterlassen. Viele Kinder hatten keine Kümmerer in herausfordernden Zeiten. Sie stehen unter krank machendem Druck. Foto: Adobe Stock/motortion/Ievgen Chabanov

Von Nicola Scharpf

Rems-Murr. Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen, Quarantäne, Furcht vor einer Infektion: Es sind viele Einflussfaktoren seit Ausbruch der Coronapandemie, die Kinder und Jugendliche seelisch belasten können. Dass Maßnahmen wie diese Auswirkungen auf die Psyche Heranwachsender haben können, ist unbestritten. Nicht nur Krankenkassen berichten von gestiegenen Zahlen unter ihren (jugendlichen) Versicherten, die sich seit Ausbruch der Pandemie wegen Depressionen oder Angststörungen in ambulante oder stationäre Behandlung begeben haben. Auch in hiesigen Einrichtungen, die Belasteten psychologische Hilfe in Form von Beratung oder ärztlicher Behandlung anbieten, werden die Folgen ebenso sichtbar wie an den Schulen.

So sagt beispielsweise Jochen Nossek, der die Backnanger Gemeinschaftsschule in der Taus leitet, dass viele Kinder große Angst haben, den Anschluss zu verpassen. Aus Angst, nicht zu genügen, bleiben sie der Schule fern, werden entschuldigt. „Dann wird es immer schwieriger, den Anschluss zu finden – zur Gruppe. Das ist natürlich fatal.“ Einen Schulpsychologen an der Schule zu haben, hielte Nossek für sinnvoll. „Bei allem, was hier im Haus passiert, ist die Schwelle nicht so hoch, wie Hilfsangebote außerhalb der Schule in Anspruch zu nehmen.“ Meistens, so Nossek, gebe es bei den Betroffenen eine Vorgeschichte, oft laufe es familiär nicht rund. Während der Zeit der Schulschließungen seien bildungsbenachteiligte Kinder weiter benachteiligt worden. „Die hatten keinen Kümmerer.“ Woher die Ängste vieler Schüler kommen, ist für Nossek offensichtlich: „Weil man den Druck aufbaut. Der Druck vor Klassenarbeiten ist riesengroß. Dieser ganze Hype mit Druck und Noten, das macht unsere Kinder krank.“ Von Programmen wie Rückenwind oder Lernbrücken in den Ferien, um Versäumtes zu kompensieren, ist Nossek nicht überzeugt. „Unsere Aufgabe ist es, den Kindern zu sagen, dass es nicht schlimm ist, Lücken zu haben.“ Schließlich hätten die Schüler zusammengenommen während der Pandemie ein Schuljahr verpasst. Die Tausschule vermittelt ihren Schülern, dass sie nicht auf ihre Leistung reduziert werden, dass Lernen kein Anhäufen von Wissen ist. Vier bis fünf Kinder, die seine Schule besuchen, sind während der Pandemie über einen längeren Zeitraum stationär behandelt worden. „Aber es ist wie bei einem Eisberg: Der größte Teil ist unsichtbar.“

Um im Bild des Eisbergs zu bleiben: Mit dessen Spitze hat Marianne Klein beruflich zu tun. Die ärztliche Direktorin am Klinikum Schloss Winnenden sagt, dass sich die langen Schulschließungen insbesondere im Bereich der Angststörungen und depressiven Störungen „deutlich bemerkbar“ machen. Vor allem die Belastung habe für Kinder und Jugendliche zugenommen. „Sie ist um ein Vielfaches mehr gestiegen. Wir sehen aber auch gestiegene Krankheitsraten – vom Schweregrad her wie sonst, aber eben gehäufter.“ Erhöht sei ebenfalls das Notfallaufkommen am Klinikum am Weissenhof in Weinsberg, das auch für Notfälle aus dem Rems-Murr-Kreis zuständig ist. Der fachliche und inhaltliche Schwerpunkt von Klein, die früher Chefärztin am Klinikum in Weinsberg war, bevor sie die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Standort Winnenden mit der Institutsambulanz Pia und der Tagesklinik mit eröffnete, liegt bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie schildert, dass Kinder und Jugendliche, denen die Maßnahmen im Zusammenhang mit Corona zu schaffen machen, schon vorher betroffen waren – entweder durch eine psychische Erkrankung oder durch Auffälligkeiten, die nun an Krankheitswert gewonnen haben. Trennungsängstliche Kinder etwa oder Jugendliche, für die große Gruppen oder der Schulbesuch früher eine große Hürde waren, hätten ihre Angst durch die ständige Konfrontation damit in Schach halten können. Während der Schulschließung und des Online-Unterrichts habe das gefehlt. Die Angst habe sich aufbauen können, sodass die Hürde am Ende der Lockdowns zu groß gewesen sei. „Wie so ein Monster wächst im Hintergrund die Angst“, beschreibt Klein.

Selbst wenn die Schulen inzwischen in der Fläche auch bei hohen Inzidenzen geöffnet bleiben, wirken die Phasen der Schließungen nach. „In der Nacharbeit sind wir mittendrin“, sagt Klein. „Das wird noch dauern, weil es zeitverzögert abflaut. Aber wir sind zuversichtlich, dass es abflauen wird.“ Was oder ob an der Kindergeneration „Corona“ etwas hängen bleibt, könne man abschließend noch nicht beurteilen.

Jugendliche sind empfindsam und nehmen seismografisch wahr

Die vollstationäre Behandlung ebenso wie die ambulante Behandlung in einer Tagesklinik sind allerdings intensive Stufen, um betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Auch in der Jugendhilfe, in Beratungsstellen, Kinderarztpraxen, bei niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten sind die seelischen Folgen der Coronamaßnahmen sichtbar. „Corona hat eine Wirkung wie ein Brennglas. Wo ungünstige Voraussetzungen waren, wurde das gebündelt und verstärkt“, berichtet Susanne Grießhaber-Stepan, was sie in der Backnanger Beratungsstelle für Familien und Jugendliche, deren Leiterin sie ist, beobachtet. Es gebe resiliente, widerstandsfähige Jugendliche und andere, für die Corona noch hinzukam zu anderen Herausforderungen und Verunsicherungen. „Für Menschen, die sensibel sind dafür, kommt dann eine Aufgabe zur nächsten. Sie müssen sehr viel mehr bewältigen als andere.“ Es waren weniger Jugendliche selbst, die sich mit pandemiebedingten Problemen an die Beratungsstelle gewendet haben, als vielmehr Eltern, die sich zum Beispiel über die Schulunlust, das Abgehängtsein, das Versinken ihres Sprösslings in der Isolation Sorgen machen. „Viele Eltern sind aufmerksam über das Befinden ihrer Jugendlichen und wollen Unterstützung für ihre Kinder.“ Auf der anderen Seite gebe es Kinder und Jugendliche, die der Ideologie ihrer Eltern unterliegen und daher keine Maske tragen und nicht geimpft werden dürfen. „Eltern sind aber nicht berechtigt, ihre Kinder von allem auszuschließen“, stellt Grießhaber-Stepan klar. Ein weiteres Themenfeld, das Kindern stark zusetzen kann, ist, wenn sich Schauplätze rund um Trennung und Scheidung auf die Coronathematik verlagern und dadurch neue konflikthafte Situationen entstehen. Kinder könnten die Trennung ihrer Eltern gut bewältigen, „aber nicht, wenn sich Eltern sabotieren und nicht sehen können: Was braucht eigentlich mein Kind?“

Wie auch immer die Thematik gelagert sei, „wichtig ist, dass die Jugendlichen wahrgenommen und ernst genommen werden mit ihrer Situation“. Für die Beratungsstellenleiterin ist klar, dass sich Corona nicht losgelöst von der globalisierten Welt denken lässt. „Fridays for Future spielt da mit rein. Es gehen die Rohstoffe aus. Wie sollen wir später mal leben? Jugendliche sind sehr empfindsam und nehmen seismografisch wahr. Große Aufgaben berühren und beschäftigen sie in anderem Maße als Erwachsene.“ Der Schlüssel liege darin, einen Wechsel in der Perspektive der Jugendlichen zu vollziehen: „Wo stehe ich? Wo kann ich wirksam werden? Wo bin ich handlungsfähig? Was tut mir gut?“ Es gehe darum, Herausforderungen, für die es kein Entrinnen und Ausweichen gibt, standhalten zu lernen.

Grießhaber-Stepan gibt keine Prognose dazu, inwieweit sich Jugendliche trotz der Einschränkungen durch die Coronamaßnahmen entwickeln konnten beziehungsweise inwieweit Entwicklung gekappt wurde. „Ich bin vorsichtig, zu sagen, dass aus dieser Belastungssituation eine Erkrankung wird. Da kommen noch andere Faktoren hinzu. Wir müssen uns alle Zeit nehmen und lassen, um zu sehen, was passiert ist.“

„Der Druck macht unsere Kinder krank“

„Wie so ein Monster wächst im Hintergrund die Angst.“