Der eigene Garten,’s Äpple undder ganze Erdball

Die Teilnehmer bestritten den virtuellen Silvesterlauf an den unterschiedlichsten Orten und entwickelten verrückteste Ideen.

Von Steffen Grün

Nicht 10, sondern 100 Kilometer: „Wahnsinn“ und „Respekt“ – das waren die beiden Vokabeln, die im Zusammenhang mit der Leistung von Bianca Bohn aus Backnang und Sabine Grüntjens aus Schwaikheim in der Facebook-Gruppe „Laufen in und um Backnang“ mit Abstand am häufigsten fielen. Das Duo war am letzten Tag des Jahres gegen 5.15 Uhr zu seinem persönlichen Silvesterlauf aufgebrochen, dessen Dimensionen den Durchschnittssportler staunen lassen. 100,12 Kilometer standen am Ende auf der Uhr, bestehend aus dem 84-Kilometer-Rundweg ’sÄpple sowie dem Weg zum Start- und Zielpunkt und wieder zurück. „Das war meine Idee“, verrät Bohn, „meine bislang längste Strecke hatte 64 Kilometer, die 100-Kilometer-Marke war ein Traum.“ Die 31-Jährige begeisterte ihre 43-jährige Laufpartnerin vom Vorhaben, miteinander sowie mit der Unterstützung von Freunden und den Familien zogen sie es durch. Sie brauchten 12:34:53 Stunden, Pausen abgezogen.

Um 19.30 Uhr und damit pünktlich vor Beginn der nächtlichen Ausgangssperren waren beide wieder daheim, „es ist Wahnsinn, zu was der Körper in der Lage ist“. Da war’s wieder, das Wörtchen Wahnsinn, dieses Mal von den Protagonisten selbst. Deren Leistung fand wiederum Sandra Burkhardt, die Siegerin über 10 Kilometer beim virtuellen Backnanger Silvesterlauf, „sehr, sehr bewundernswert“. Bianca Bohn hatte trotzdem noch so viele Körner übrig, dass sie mit ihrer Cousine immerhin bis nachts um halb zwei Silvester feierte.

Rund um den Erdball aktiv: Der Lauf zog nicht alleine die Sportler vor Ort in seinen Bann, sondern reizte auch einige Frauen und Männer fern ihrer alten oder eigentlichen Heimat. Zu den Startern im chinesischen Yantai, im neuseeländischen Auckland sowie im US-Bundesstaat New York, die ihr Rennen bereits drei Tage vor Silvester gemeldet hatten (wir berichteten), gesellten sich weitere internationale Silvesterläufer. „Nicht so hügelig wie die Originalstrecke“ sei der von ihm ausgesuchte 5-Kilometer-Kurs an der Costa da Caparica bei Lissabon, verriet Matt Wieland, aber es sei „gefühlt mindestens genauso kalt“. Davon konnte in Singapur keine Rede sein, wo Yannic Noller bei angenehmen 27 Grad, aber 89 Prozent Luftfeuchtigkeit seine Runde drehte. Von einem von ihm eingebauten „Ersatz-Marktstraßenanstieg“ schrieb Axel Veeser, der in Corona del Mar in der Nähe von Los Angeles mitmachte. Affen, Tukane und Nasenbären begegneten Stefanie Fink, die eigentlich in der brasilianischen Metropole São Paulo lebt, über Silvester aber nach Foz do Iguaçu reiste, „weil es einfach so ein wundervolles Fleckchen Erde ist“.

Chance gewahrt: Augenzwinkernd hatten die Silvesterlaufmacher vor dem Start zur virtuellen Alternative darauf hingewiesen, dass in Backnang seit einem Vierteljahrhundert niemand mehr OB geworden ist, „der nicht vorher noch schnell den Silvesterlauf absolviert hat“. Sie spielten damit darauf an, dass Noch-Rathauschef Frank Nopper vor seiner ersten Wahl im Februar 2002 die 10-Kilometer-Strecke zurückgelegt hatte. Maximilian Friedrich, der in einigen Wochen das Erbe des neuen Stuttgarter Oberbürgermeisters antreten will, nahm sich den Wink mit dem Zaunpfahl zu Herzen und lief schon am ersten Weihnachtsfeiertag fünf Kilometer in 38:46 Minuten (wir berichteten). Jörg Bauer und damit der zweite Kandidat, der noch im alten Jahr den Hut in den Ring geworfen hatte, betont, zu diesem Zeitpunkt längst auch schon seinen Start geplant zu haben. Er wartete zwar bis zum Silvestertag selbst, ließ sich dann aber nicht lumpen. In 25:45 Minuten reihte er sich in der 5-Kilometer-Gesamtwertung immerhin auf Rang 65 ein. Eigentlich wäre der Triathlet, der 2019 beim Hawaii-Ironman das Ziel erreichte, über den Jahreswechsel wieder im Trainingslager gewesen. Die Reisebeschränkungen sowie die Kandidatur hielten ihn aber in seiner Heimatstadt. Bauer und Friedrich befolgten also das ungeschriebene Gesetz, dass in Backnang eigentlich nur Schultes werden kann, wer vorher beim Silvesterlauf mitgemacht hat.

Kreative Eintönigkeit: Von „Quarantäne-Quatsch“ und seinem wohl „verrücktesten Lauf aller Zeiten“ spricht Martin Tschepe. Der Journalist und Extremsportler, dessen bevorzugtes Element als Freiwasser- und als Eisschwimmer des SV Ludwigsburg eigentlich H2O ist, der aber auch abseits der Becken, Flüsse und Seen großen sportlichen Ehrgeiz besitzt, machte das Beste aus seiner Situation. Er rannte die zehn Kilometer im heimischen Garten – „immer hoch und runter, hoch und wieder runter“. Bestzeiten waren bei diesem ständigen Bremsen, Wenden und wieder Schwung aufnehmen nicht zu erwarten, unter diesen Bedingungen sind exakt 1:20 Stunden aber aller Ehren wert. Das empfanden auch einige Facebook-Kommentatoren so, etwa Anaïs Dupuis-Dreher: „Hammer! Hast du super gemacht und verdienst eine Ehrenauszeichnung.“

Fotostopps als Verschnaufpause: Im Bewegungsradius eingeengt war „Wonni, die Robbe“, nicht. Für den Menschen im Kostüm des Wonnemar-Maskottchens war es aber trotzdem eine anstrengende Angelegenheit, unter diesen Bedingungen die zehn Kilometer auf der Silvesterlaufstrecke zu meistern. Mit gebotenem Abstand für Fotos zu posieren, an denen vor allem Kinder großes Interesse hatten, war da wohl eine willkommene „Verschnaufpause, die, glaube ich, sehr gelegen kam“, mutmaßt Carina Neumann, die Marketing-Leiterin des Bades, und lacht. Nach 1:23:50 Stunden war Wonni im Ziel und durfte sich der Verkleidung entledigen.

Auf fremdem Terrain: Eigentlich sind die Becken im Hallen- und im Freibad ihr Hauptbetätigungsfeld, doch aufgrund der Coronakrise haben die Wasserballer der TSG Backnang bereits seit beinahe einem Jahr keine Partie mehr bestritten. „Bis in die Haarspitzen motiviert“, so ihre eigene Ankündigung, nahmen sie sich stattdessen den virtuellen Silvesterlauf vor und avancierten zum zweitgrößten Team. Kapitän Fabio Taccogna machte den Anfang, nach dem italienischen Weihnachtsessen hüpfte er sofort in die Laufschuhe. Quasi als Erkennungsmerkmal streifte er sich eine Badehose über die Laufhose, das verrückteste Outfit präsentierte aber ein Teamkollege: Badehose, Bademantel, Schwimmbrille, Alltagsmaske – das war’s. Nur fürs Foto oder auch fürs Rennen? Das blieb offen. Aktuelle und frühere Spieler und Trainer trugen ihr Scherflein zur starken Bilanz bei, auch Mark Daynes mischte mit. „Spätestens jetzt ist das Glatteis geschmolzen“, schrieben die Wasserballer dazu in den sozialen Medien, „unser Abteilungsleiter legt eine heiße Sohle auf die Straße.“