„Der Mensch braucht ein enges Netz“

Wir sind Familie (1): Im Interview spricht die Soziologin Lena Hipp über den stetigen Wandel von Familienformen

Lena Hipp ist Professorin für Soziologie an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Im Interview mit unserer Zeitung erläutert die Soziologin verschiedene Familienmodelle und erklärt, wie und warum sich Familie ständig verändert.

„Der Mensch braucht ein enges Netz“

In den kommenden Wochen werden wir in unserer neuen Serie verschiedene Familienmodelle vorstellen. Mit dabei sind die Familien Klein/Schwartz, Bohn und Hauguth (von links). Fotos: A. Becher/privat

Von Florian Muhl

Wann spricht man von einer Familie?

Familie ist, wenn mehrere Generationen, mindestens aber zwei, zusammenleben. Wenn die Familie intakt ist, unterstützen sich die Mitglieder nicht nur emotional, sondern auch ökonomisch und sozial.

Was ist die traditionelle Familie?

Wenn wir heute von traditionellen Familien sprechen, dann denken die meisten von uns wahrscheinlich an die bürgerliche Kleinfamilie. Vater, Mutter, zwei Kinder. Das Bild entstammt den 1950er- und 1960er-Jahren und ist darum erst seit Kurzem traditionell.

Aber die Zeiten haben sich geändert?

Ja, wir haben zwar erstaunlicherweise noch dieses Bild: Vater und Mutter verheiratet, ein oder mehrere leibliche Kinder. Er sorgt sich um das materielle Einkommen, sie bleibt zu Hause und kümmert sich um das Kind. Diese Vorstellung prägt uns heute noch, spiegelt aber längst nicht mehr die Realität.

Welche Familienmodelle gibt es in der heutigen Zeit?

Heute gibt es immer mehr Patchworkfamilien und auch der Anteil von Familien mit alleinerziehendem Elternteil wächst. Jemand hat vielleicht ein Kind mit einem Partner und ist nicht verheiratet. Man trennt sich wieder und es gibt eine Fortsetzungsfamilie. Es kommt ein neues Kind dazu oder das Paar nimmt ein Pflegekind auf. Mittlerweile gibt es – auch wenn der Anteil noch klein ist – immer mehr Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern, auch Regenbogenfamilien genannt. Das alles ist auch Familie.

Welche Funktion hat die Familie?

Trotz vieler gesellschaftlicher Veränderungen bilden Familien heute noch immer das Kernstück einer Gesellschaft. Kinder werden in eine Familie hineingeboren. Das können Familien mit Mutter und Vater sein, aber auch nur einem Elternteil oder zwei gleichgeschlechtlichen Eltern. In Familien werden Kinder nicht nur von den Eltern, sondern auch von anderen Verwandten großgezogen, erzogen und sozialisiert.

Worauf kommt es dabei an?

Der Mensch braucht ein enges Netz, das ihm die Familie geben kann. Es ist nicht nur ökonomisch wichtig, sondern auch emotional und psychologisch.

Macht es Menschen glücklich, in einer Familie aufzuwachsen beziehungsweise zu leben und alt zu werden?

Das kann man so pauschal nur schwer beantworten und hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Nicht alle Familien sind intakt. Auch kommt es im familiären Kontext bisweilen zu Gewalt. Was jedoch sicher ist, ist, dass soziale Beziehungen für Menschen wichtig sind und diese das Wohlbefinden beeinflussen. Allerdings existieren diese auch außerhalb der Kernfamilie und tragen zum Glücklichsein sein.

Warum gab es vor 60, 70 Jahren kaum ein anderes Familienmodell als die traditionelle Familie?

Die Kleinfamilie wird ein wichtiger Rückzugsort in Zeiten von Unsicherheit. Und natürlich gab es nach dem Krieg extreme Unsicherheit. Die Familie war der Ort der Beschaulichkeit nach den Jahren, die so anstrengend, gefährlich und schlimm waren. Deshalb sprechen Soziologen vom Goldenen Zeitalter der Ehe in den 1950er- und 1960er-Jahren. Alle westlichen Industrienationen haben dieses Bild aus dieser Zeit ganz stark verinnerlicht.

Wann begann der Wandel der Familienstruktur und warum?

Die traditionelle Familie, von der Sie eben gesprochen haben, ist heutzutage zwar noch immer die dominante Familienform im mittleren Erwachsenenalter, aber seit den 1970er-Jahren rückläufig. Damit ist aber keineswegs das Ende der Familie gekommen. Ein Blick weiter zurück zeigt: Familienformen haben sich stets gewandelt und die Pluralität, die wir heute beobachten können, gab es auch schon früher.

Warum gibt es eine Pluralisierung der Lebensformen?

Aufgrund eines allgemeinen Wertewandels und veränderten Geschlechternormen sind alternative Familienformen heute gesellschaftlich viel stärker akzeptiert. Familien mit nur einem Elternteil oder Patchworkfamilien sind früher oftmals infolge von Notlagen entstanden, zum Beispiel dem Tod eines Partners. Heute sind diese Familienformen sozial akzeptierte Alternativen, die häufig freiwillig gewählt werden und aus diesem Grund häufiger vorkommen.

„Der Mensch braucht ein enges Netz“

Zur Person
Lena Hipp

1997 bis 2003: Studium an der Albert-Ludwigs-Universtität Freiburg, dem Institut d’études politiques Paris und der Freien Universität Berlin

2003 bis 2005: Arbeitsmarktreferentin im Deutschen Bundestag

2011: Promotion in Organizational Behavior an der Cornell University (USA)

2010 bis 2012: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

seit Oktober 2012: Leiterin der Nachwuchsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am WZB

seit Oktober 2017: S-/W2-Professorin in Sozialstrukturanalyse an der Universität Potsdam

2018: Gastforscherin am Minda de Gunzberg Center for European Studies (Harvard Universität)