Die AfD und der Traum vom Dexit

Der Bundesparteitag in Riesa soll beschließen, dass Deutschland die Europäische Union verlassen soll

Von Wolfgang Molitor

Europa zählt zu den Leib-und-Magen-Themen der AfD. Der Ruf, Deutschland müsse aus der EU und dem Euro aussteigen, ist Hauptbestandteil jener politischen Initialzündung, die 2013 unter Führung von Bernd Lucke zur Gründung einer europaskeptischen und rechtsliberalen Partei führte, bevor ihre im Rahmen der Flüchtlingsdebatte wachsende rechte Radikalisierung 2015 zur Spaltung führte. Das hatte zur Folge, dass von den sieben bei der Europawahl 2014 ins Europäische Parlament gewählten AfD-Abgeordneten mit dem nachgerückten Jörg Meuthen nur noch ein einziger übrig geblieben ist.

Nach der nächsten Europawahl am 26. Mai dürften es deutlich mehr werden. Noch immer deutet manches darauf hin, dass die AfD ihre vor fünf Jahren erzielten 7,1 Prozent mehr als verdoppeln könnte. Doch wie radikal soll sich die Partei in diesem Wahlkampf aufstellen? Wie sehr sich in die rechts-nationalistische Strategie der ebenfalls erfolgreichen italienischen Lega, der österreichischen FPÖ, des französischen Rassemblement National von Marine Le Pen einreihen. Wie vornehm sich den fiesen Freunden in Ungarn und Polen anschließen?

Dabei sein ist alles: Mit diesem Motto zieht die AfD an diesem Wochenende in Riesa in den Europawahlkampf. Dabei sein, wenn die unglücklichen Briten Ende März den Brexit verkünden. Und vor allem mit von der Partie sein, wenn sich Populisten und EU-Kritiker, „natürliche Verbündete“, wie Meuthen sie nennt, Ende Mai aufmachen, die Mehrheitsverhältnisse in jenem Parlament entscheidend zu verändern, dessen Abschaffung zu den zentralen Zielen der AfD gehört. Die Aussichten der EU-Skeptiker stehen nicht schlecht: Nach einer neuen Projektion könnten sie 155 der künftig 705 Sitze gewinnen und hinter der Europäischen Volkspartei zweite Kraft werden.

Die Dexit-Partei: Noch zögert man in der AfD, diese Karte eindeutig aufzudecken. Der verlogene Wahlkampf der Brexit-Befürworter und die vor allem für Großbritannien verheerenden wirtschaftlichen Folgen sind schließlich auch denen nicht verborgen geblieben, die sich an einer vermeintlichen Brüsseler Überregulierung und Aushöhlung nationaler Zuständigkeiten nicht ohne jeden Grund reiben. Da klingt die Forderung im Leitantrag der AfD-Programmkommission dann großmäulig abgehoben, das Europäische Parlament solle sich „in eine Europäische Versammlung“ mit höchstens 100, nicht mehr direkt gewählten Abgeordneten umwandeln und damit de facto selbst abschaffen. Sollte sich in Riesa obendrein eine Mehrheit dafür finden, die „grundlegenden“ AfD-Reformansätze (unter anderem die komplette Abwicklung der europäischen Agrar- und Umweltpolitik inklusive Klimaschutz) schon in der nächsten Legislaturperiode zu realisieren, andernfalls 2024 „einen Austritt Deutschlands oder eine geordnete Auflösung der EU und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ zu betreiben, wäre diese Europawahl wohl die letzte.

Auch wenn Meuthen kleinlaut davor warnt, sich mit dem konkreten Dexit-Datum politisch zu übernehmen, und lieber von einem EU-Austritt „in angemessener Zeit“ träumt: Die AfD-Basis findet die Drohkulisse gut. Bei einer Fragebogenaktion im Herbst 2018, an der knapp 20 Prozent der rund 32 000 Mitglieder teilgenommen hatten, erklärten mehr als 80 Prozent, für sie sei der Austritt aus der EU eine Option, die als prägnanter Ausdruck in das Wahlprogramm gehöre. Was zeigt: Auch wenn eine Mehrheit der AfD-Delegierten noch davor zurückschrecken sollte, ein glasklares Dexit-Datum auszurufen: Die Lunte brennt.

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