Die Wunden der Volksparteien heilen

Wenn CDU und SPD ihre Profile stärken, ist das gut für alle – auch wenn die Koalition dadurch bricht

Von Norbert Wallet

Volksparteien -

In dergroßen Koalition geht gerade Erstaunliches vor: Mitten im Strudel der tagespolitischen Aufgeregtheiten nehmen sich SPD und CDU Zeit zur Selbstbesinnung. Sie wollen lange klaffende Wunden verheilen lassen, die die Parteien von innen angegriffen haben, weil sie den je eigenen Kern zu zersetzen drohten – hier das Dauerthema Hartz IV, dort die Migrationspolitik.

Wenn der Heilungsprozess gelänge, wäre das für das ganze Land gut. Volksparteien sind riesige Konsensmaschinen, die stellvertretend gesellschaftliche Interessenkonflikte austragen. Wenn dieser Mechanismus nicht mehr funktioniert, mehren sich die im außerparlamentarischen Raum ausgetragenen Streitereien. Die gesellschaftlichen Spannungen wachsen. Das lässt sich seit einigen Jahren hierzulande beobachten. Insofern muss man den Prozess der Selbstvergewisserung, dem sich Union und SPD unterziehen, mit viel Sympathie verfolgen.

Es mag sein, dass eine größere innerparteiliche Geschlossenheit als Folgewirkung zu verstärkten Spannungen innerhalb der großen Koalition führt. Das ist aber nicht schlimm, denn Unruhe in diesem Zweckbündnis gibt es ohnehin, und niemand kann seriös voraussagen, ob die Regierung die Europawahlen im Mai überlebt. Es gibt jedoch den diese Bedenken überlagernden Effekt einer stärkeren Profilierung beider Parteien: Wenn Union und SPD klare und differierende Positionen vertreten, wird Politik wieder verstehbarer.

Gerade die SPD hat darunter gelitten, dass die notwendigen Dauerkompromisse mit einer dauerhaft in die Mitte rückenden Union das eigene Profil bis zur völligen Unkenntlichkeit verwässert haben. So wurde Politik für die Bürger konturlos. Klare Alternativen und Themen, die eindeutig mit den Parteien identifiziert werden können, sind deshalb wichtige Errungenschaften. Wenn sich die SPD nun in seit Langem nicht mehr erlebter Einmütigkeit hinter der Grundrente nach dem Modell von Hubertus Heil versammelt und ein Konzept vertritt, das Hartz IV ablöst, kann das – unabhängig, ob die Konzepte inhaltlich tatsächlich einleuchtend sind – positive Wirkungen haben. Endlich nämlich gibt es wieder Themen, um die heftig gestritten werden kann.

Insofern kann es der SPD nur gefallen, wenn ihr neues Sozialstaatskonzept bei der Union auf Widerspruch stößt. Und wenn immerhin der stellvertretende CDU-Vorsitzende Volker Bouffier allen Ernstes meint, das Grundrentenkonzept und die SPD-Alternative zu Hartz IV seien die „Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft“, ist das doch immerhin so grotesk und entlarvend, dass endlich wieder grundsätzliche Unterschiede zwischen den großen Parteien sichtbar werden. Gut so.

Allerdings, so wie die Dinge liegen, ist gar nichts mehr einfach für die SPD. Für sie wird es nicht damit getan sein, neue Konzepte geschlossen zu vertreten. Irgendwann muss man dann auch die Kraft haben, die politische Konsequenz zu ziehen. Wenn klar wird, dass ihre Sicht gesellschaftlicher Gerechtigkeit mit der Union nicht durchsetzbar ist, dann ist es weder der Mitgliedschaft noch den Wählern klarzumachen, warum man sich weiter an die Regierung klammert.

Man kann das aber auch positiv drehen: Mit ihren Beschlüssen hat sich die SPD neue Bewegungsfreiheit erschlossen. Wenn die Europawahlen im Mai oder die Landtagswahlen im Herbst schiefgehen, ließe sich damit ein Ausstieg aus der Koalition glaubwürdig inhaltlich begründen. Eine Umorientierung auf Links-Mitte-Bündnisse wäre die logische Konsequenz aus den Beschlüssen vom Wochenende.

norbert.wallet@stzn.de