Doktor Schweizer zieht die Reißleine

Backnanger Arzt liegt mit der Kassenärztlichen Vereinigung im Clinch und schließt nach Regressforderung im Sommer seine Praxis

Der Backnanger Allgemeinmediziner Lutz-Dietrich Schweizer zieht nach jahrelangem Kampf mit der Kassenärztlichen Vereinigung einen Schlussstrich: Zum 30. Juni dieses Jahres schließt er seine Praxis. Eine Entscheidung, die sich der 61-Jährige nicht leicht gemacht hat, schließlich sind ihm seine Patienten ans Herz gewachsen. Aber der Mediziner räumt unumwunden ein: „Sechs Monate mehr, und ich wäre ruiniert gewesen.“

Doktor Schweizer zieht die Reißleine

Die meisten Patienten von Lutz-Dietrich Schweizer benötigen aufgrund ihrer Vorgeschichte mehr und teurere Medikamente als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die Kassenärztliche Vereinigung erkennt diese untypische Patientenschaft nicht an. Foto: A. Becher

Von Matthias Nothstein

BACKNANG. Die Praxis des Allgemeinmediziners im Zwischenäckerle ist mit anderen schwer vergleichbar. Unter den 3000 Patienten sind sehr viele Suchtkranke und psychosozial behandlungsbedürftige Menschen. Über Jahre hinweg hat sich der Mediziner besonders bei Drogensüchtigen den Ruf erworben, dass er sie in ihrer schwierigen Lebenssituation nicht alleine gelassen hat. So wurden sie unter der Aufsicht des Experten mit Drogenersatzmedikamenten wie Methadon versorgt. Diese Behandlung wird von den Kassen angemessen entlohnt, sodass Schweizer zuversichtlich ist, dass die derzeit 120 Subsitutionspatienten von anderen Praxen übernommen werden.

Die Besonderheit der Praxis ist jedoch, dass die meisten Patienten mit solch einer Biografie auch nach Ende ihrer Akutbehandlung dem Mediziner Schweizer ihr Vertrauen schenken. In einem Brief an alle seine Patienten, mit dem der Arzt die Schließung der Praxis nach 31 Jahren begründet, schreibt er: „Unsere Patienten brauchen durchschnittlich mehr und teurere Medikamente als der Durchschnitt der Patienten anderer Allgemeinärzte. Dass wir eine für Allgemeinärzte untypische Patientenschaft haben, erkennt die Kassenärztliche Vereinigung nicht an und zieht deshalb die ,zu viel‘ verordneten Medikamente vom Honorar der Praxis ab.“

Ohne Vorankündigung 25000 Euro Regress vom Honorar abgezogen

Im konkreten Fall hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) im Oktober vergangenen Jahres auf einen Schlag und ohne Vorankündigung einen Regress in Höhe von 25000 Euro abgezogen. Mit der Konsequenz, dass nach einiger Zeit das Konto des vierfachen Familienvaters gesperrt wurde. Inzwischen hat Schweizer das Haus seines Vaters verkauft, um wieder flüssig zu werden. Verhandlungen mit der KV, mit der er sich seit vielen Jahren intensiv auseinandersetzt, führten jedoch zu keiner Änderung, weshalb Schweizer nun die Reißleine zieht: „Das kann auf Dauer nicht gutgehen, wenn man das Personal bezahlen und auch als Familie von der Praxis leben will.“ Mitte Februar hat er das Papier unterschrieben, wonach er seinen Kassenarztsitz zurückgibt, „das ist hiermit endgültig“.

Der Schritt war laut Schweizer unausweichlich. „Zwar hat mein Steuerberater mich seit Jahren gewarnt, aber als es jetzt so eindeutig klar wurde, war es für mich ein Schock. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen wird, sondern ich hatte immer die Hoffnung, dass ich es noch irgendwie bis zum Ruhestand durchhalten kann. Diese Hoffnung hat sich leider als falsch erwiesen.“

Schweizer hätte eigenen Angaben zufolge die Schließung verhindern können. Dann nämlich, wenn er seine – in den Augen der KV – „teuren“ Patienten vergrault und sich dafür die „billigen“ geangelt hätte. Unter billigen versteht er jene, die nur einmal im Quartal kommen, und für die er trotzdem die Pauschale kassieren kann. Im Fachjargon werden sie Verdünnungspatienten genannt. Seine Sorgenkinder kommen jedoch wöchentlich, „manche gar täglich“, und sie machen einen Großteil seiner Arbeit aus. Trotzdem hat er sich nie gegen sie ausgesprochen, „sie sind mir ans Herz gewachsen“.

Betriebswirtschaftlich betrachtet hat sich Schweizer damit doppelt geschadet, denn aufgrund seiner Aufgeschlossenheit für sein Subsitutionsklientel haben viele „normale Patienten“ seine Praxis gemieden. Das Problem hat sich noch verstärkt, als er vergangenes Jahr die Behandlung mit Cannabis-Arzneimitteln eingeführt hat. Schweizer: „Einerseits hat diese Behandlung wirklich bemerkenswerte Erfolge aufzuweisen, andererseits hat sich dadurch, dass ich in Backnang und Umgebung fast der Einzige bin, der Cannabis verschreibt, die Patientenzusammensetzung noch weiter in die ,ungünstige‘ Richtung verschoben.“

Der Mediziner muss alle Medikamentenkosten, die 15 Prozent über dem Durchschnitt aller Allgemeinmediziner liegen, zurückzahlen. Seit Jahren wehrt er sich auch vor Gericht dagegen. Im Moment hat er 40 laufende Verfahren, die ältesten reichen bis ins Jahr 2009 zurück. Bislang hat er jedes Mal recht bekommen und musste die Regressforderung nicht begleichen. Nun toleriert die Kassenärztliche Vereinigung die teuren Therapien für Schweizers Patienten anscheinend nicht länger und zieht den Regress auch schon vor der Urteilsverkündung ab. Seit der Regressforderung vom vergangenen Herbst ist der Arzt eigenen Angaben zufolge mehr als einen Arbeitstag pro Woche mit dem Verfassen von Stellungnahmen und Widersprüchen beschäftigt. „Das bringt nichts ein, kostet viele Nerven und hält mich von der eigentlichen Arbeit, der Patientenbetreuung, ab. Das möchte ich so nicht mehr lange weitermachen.“

Der Mediziner hat auch einen Plan, wie es für ihn weitergeht. Derzeit bewirbt er sich um eine 50-Prozent-Anstellung bei einer Institution, Gespräche führt er aufgrund seines Fachwissens mit dem Wilhelmsheim oder dem ZfP Winnenden. Und eine halbe Stelle behält er für seine Tätigkeit als Psychotherapeut, bei der er sich weiter um Alkohol- oder Drogenabhängige, um Borderline-Patienten und um Menschen mit chronischen Schmerzen kümmert.

Auch wenn Schweizer derzeit am Boden zerstört ist und sein Lebenswerk als unvollendet ansieht, so hat er doch für sich einen Trost gefunden, dass er vieles in seinem bisherigen Leben richtig gemacht hat: „Es gibt zahlreiche Menschen, die wegen mir überlebt haben und denen ich Schutz geben konnte.“

Die Kassenärztliche Vereinigung äußert sich nicht zu dem konkreten Fall der Praxisschließung. Ganz generell heißt es in einer Presseerklärung: „Der Gesetzgeber hat eine Verpflichtung ausgesprochen, dass alle Beteiligten im Gesundheitswesen (außer den Patienten) den Aspekt der Wirtschaftlichkeit beachten. Bei den Ärzten bezieht sich das unter anderem auf die Verordnung von Medikamenten. Dabei hat der Gesetzgeber vorgegeben, dass ein Arzt gegebenenfalls auch in Regress genommen wird.“

Wolfgang Steinhäußer, der Vorsitzende der Ärzteschaft Backnang, wurde von Schweizer frühzeitig über die drohende Schließung der Praxis informiert. Steinhäußer würdigt die Arbeit seines Berufskollegen: „Er hat meinen vollen Respekt, dass er über viele, viele Jahre sich der Menschen angenommen hat, die medizinisch und zwischenmenschlich viel Aufmerksamkeit, Kraft und Ressourcen benötigen.“

Kommentar
Menschlichkeit gilt weniger als Geld

Von Matthias Nothstein

In den kommenden Jahren sollen in Baden-Württemberg 500 Hausärzte fehlen. Diese Prognose stammt von der Kassenärztlichen Vereinigung selbst. Da müsste man doch glauben, dass die Verantwortlichen wie Löwen um jeden einzelnen Arztsitz kämpfen. Tun sie aber nicht. Im Gegenteil. Da wird ein Mediziner, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, gnadenlos ins Abseits und fast in den Ruin gedrängt. Und das angesichts dessen, dass die Krankenkassen seit Jahren auf einem Überschuss von über 20 Milliarden Euro sitzen. Dieses Vorgehen gegenüber einem Mediziner, der ganz gewiss nicht die Porsche-Golfplatz-Mentalität verinnerlicht hat, ist in keiner Weise nachvollziehbar.

Neben dem Hauptbetroffenen können einem auch die Patienten leidtun. Ob sie angesichts der vielerorts überfüllten Praxen eine ebenbürtige Weiterbetreuung finden, darf getrost bezweifelt werden.

Die Kassenärztliche Vereinigung lehnt sich dabei schon einmal zurück und schreibt, sie könne dabei nur bedingt helfen. Die Patienten müssten halt längere Wege in Kauf nehmen und könnten in akuten Fällen auch das Telemedizinangebot docdirekt in Anspruch nehmen oder die Notfallpraxen aufsuchen. Unterm Strich haben wieder finanzielle Aspekte den Ausschlag gegeben. Womit wieder einmal bewiesen wäre: Menschlichkeit gilt eben bei vielen weniger als Geld.

m.nothstein@bkz.de

Info
Elf Arztsitze unbesetzt

Der Rems-Murr-Kreis ist auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin in drei Planungsbereiche unterteilt. Der Bezirk Backnang umfasst 120000 Einwohner, für die laut KV 55 Allgemeinmediziner zuständig sind.

Heute schon sind neun Arztsitze nicht besetzt, mit der Schließung der Praxis Schweizer kommt der Verlust von zwei weiteren Arztsitzen dazu. Denn mit der Schließung der Praxis verliert auch der angestellte Allgemeinmediziner Christoph Martin seine Stelle sowie auch sechs Mitarbeiter.

Weil es für die Patienten nicht einfach wird, einen neuen Hausarzt zu finden, fordert sie Schweizer heute schon auf, sich auf die Suche zu machen. Und er gibt den Tipp, sich an die Kassenärztliche Vereinigung zu wenden, wenn kein Ersatz gefunden werden kann.