Domjan liefert frei Haus

Vor Weihnachten werden Millionen Pakete verschickt

Von Florian Gann

ZustellerDer Advent ist Hochsaison für die Auslieferer von Paketen. Viele Arbeiter macht der Job krank. Doch David Domjan, der in Stuttgart seine Tour fährt, macht er glücklich. Warum?

Stuttgart Um 14.45 Uhr ist es Zeit für eine Pinkelpause. Bei einem Getränkehändler in Weilimdorf darf David Domjan das Klo nutzen. Er hat keine Toilette im Wagen, also muss er solche Stopps einplanen. Danach nimmt er Pakete von den Regalbrettern in seinem Transporter und schichtet sie, nach Hausnummern sortiert, in der richtigen Reihenfolge am Boden auf. Er macht das immer, bevor er in eine neue Straße fährt. 50 Sendungen hat er noch in den Regalen, am Morgen waren es viermal so viele. Es läuft gut, und das ist nicht selbstverständlich.

Die Vorweihnachtszeit ist Hochsaison für Paketfahrer. Etwa 280 Millionen Pakete werden dann in Deutschland versendet. Übers Jahr gesehen kommen laut dem Bundesverband Paket und Express Logistik 2,9 Milliarden Sendungen zusammen. Jedes Jahr landen mehr Pakete in den Lieferwagen. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl verdoppelt.

Sechseinhalb Stunden vor der Pinkelpause hält Domjan einen Plastikbecher mit Automatenkaffee in der einen Hand, einen Handscanner in der anderen. Hinter ihm tun Förderbänder ihre Arbeit und verteilen mit einem leisen Surren die Pakete. Vollautomatisch werden sie von den anliefernden Lkw weggebracht, eine Weiche gibt ihnen an der richtigen Stelle einen Schubs und lässt sie auf die Rutsche des zuständigen Fahrers gleiten. Die Rutsche, das sind Holzbretter und Metallrollen mit Gefälle, über die in der Zustellbasis in Korntal-Münchingen 23 000 Pakete pro Tag ihren Weg zum zuständigen Paketfahrer finden. 200 davon landen bei Domjan. Sein Arbeitstag beginnt so: Pakete aufheben, einscannen, in den Transporter schichten. 200-mal. Mitten in der Vorweihnachtszeit ist das ein ruhiger Tag. In seinen Anfangszeiten als Auslieferer hätten ihn die Pakete bis in die Träume verfolgt, sagt Domjan: „Anfangs stresst es jeden.“ Nach sechs Jahren bei DHL ist er gelassener geworden.

Nach eineinhalb Stunden Beladezeit, um 9.45 Uhr, dreht Domjan den Zündschlüssel seines Mercedes Sprinter um. Er mag den Moment, in dem er den gelben Gebäudeblock hinter sich lässt, auf der Straße sein eigener Chef ist und Weilimdorf mit Paketen beliefert. Alle 150 Meter sucht Domjan einen Platz zum Halten. Paket schnappen, klingeln, Paket abgeben, Unterschrift einholen, weiterfahren. Immer wieder raus in die Kälte, rein ins warme Gebäude, raus in die Kälte, rein ins nie richtig warm werdende Auto. Aufs Liefern folgt dann oft Fieber: Oft werde man krank im Winter, sagt Domjan.

Kurz weiterfahren, nächster Stopp, Pakete schichten, austragen und weiter. Domjan ist immer in Bewegung, läuft zügig und kommt trotzdem nur im Schneckentempo voran. Zu Fuß macht man in diesem Job fast so viele Kilometer wie mit dem Auto. Bis zu 15 am Tag.

Der Job als Paketfahrer war für Domjan ein Aufstieg. Mit 19, direkt nach dem Schulabschluss daheim in Ungarn, zog er seinem Vater nach Stuttgart nach. Er arbeitete als Abwäscher in einem gehobenen Restaurant. Domjan hat es gehasst. „Die Leute sprachen mit mir wie mit einem Tier“, erinnert er sich. Irgendwann sah er nach der Schicht einen gelben DHL-Laster, hinter der Scheibe ein Zettel mit einem Stellenangebot. Domjan, dessen Deutsch zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz ausgefeilt ist, wählt die Nummer. Er versteht den schnell redenden Mann kaum, antwortet nur ein paarmal „Ja, okay“. Am Ende des Gesprächs ist der Mann sein neuer Chef.

Domjan biegt vom Industriegebiet in eine Wohngegend. Die Uhr zeigt jetzt 11.15 Uhr an. Das Liefern dauert länger als bei den Firmen, hier nimmt er sich für viele Kunden etwas Zeit, „damit sie deine Freunde werden“: „Wir werden ein bisschen Teil vom Leben unserer Kunden.“ Domjan kennt die Geschichten vieler Menschen. Sie erzählen sich durch die Bestellungen. Der Mann in dem großen Wohnhaus lässt sich Spezialfutter liefern, sein Hund ist allergisch. Immer wieder Pakete mit Windeln bedeuten, dass Nachwuchs da ist. Bestellungen vom Sexshop geben tiefere Einblicke ins Privatleben, als man sie vielleicht haben möchte.

Aber nicht nur die Pakete erzählen Geschichten, Domjan beschäftigt sich auch mit den Menschen. Er lächelt immer, hat meist einen Scherz auf den Lippen. Viele freuen sich, ihn zu sehen. „Ihr hab’ ich schon meine ganze Lebensgeschichte erzählt“, sagt er über eine Frau, die schon mal Urlaub im Ferienhaus seines Vaters machen wollte. Über eine andere Frau sagt er: „Sie macht mir das Leben leichter.“ Auch sie ist eine Verbündete. Sind die Nachbarn nicht daheim, nehmen sie die Pakete entgegen. Manchmal für einen ganzen Straßenzug. So lernen sich manchmal Nachbarn kennen, und die Kunden kommen schneller an ihre Lieferung.

Rund um Paketzusteller hört man viele Horrorgeschichten. Von mafiösen Strukturen ist die Rede, von miesen Löhnen und unzumutbaren Arbeitszeiten, von „Paketsklaven“. „Die Schnellen werden gegen die Langsamen ausgespielt“, sagt ein Auslieferer aus dem Raum Stuttgart, der lieber anonym bleiben will. Man habe „Angst vor der Weihnachtszeit“ wegen der Flut an Paketen. Warum geht es dann bei Domjan so gemächlich zu?

Der Grund liegt laut der Gewerkschaft Verdi in einer Art Rangordnung, was die Anstellungsverhältnisse angeht: Bei DHL sind fast alle Fahrer fest angestellt und im Tarifvertrag. Das Einstiegsgehalt liegt bei knapp unter 2000 Euro netto. Bei UPS ist Verdi zufolge etwa die Hälfte der Auslieferer fest angestellt, die andere Hälfte arbeite für Subunternehmer. Bei DPD, GLS und Hermes seien fast alle über Subunternehmer beschäftigt. Was dort passiert, soll sich jeglicher Kontrolle entziehen. „Verantwortlich sind vor allem die großen Unternehmen“, sagt Andreas Henze, der bei der Gewerkschaft für den Bereich Postdienste und Speditionen zuständig ist. Er fordert, dass sie bei Subunternehmen darauf achten, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Und von der Politik, dass Paketdienste für Subunternehmen in gewissen Fällen haftbar gemacht werden sollen. Und von den Kunden ein Bewusstsein für faire Preise. Die Anbieter Hermes und DPD haben bereits angekündigt, im neuen Jahr anzupassen – nach eigenen Angaben, um bessere Löhne zahlen zu können. Auch die gute Konjunktur helfe derzeit den Paketfahrern, sagt Henze.

Um 16.45 Uhr setzt sich Domjan ein letztes Mal hinter das Steuer seines Mercedes Sprinter. Die Regale im Paketraum sind jetzt leer, die Tour ist geschafft, sogar vor der täglichen Maximalarbeitszeit von zehn Stunden. 200 Pakete hat er übergeben, insgesamt zwei Euro Trinkgeld hat er bekommen – von einem älteren Mann im Unterhemd aus dem Badezimmer zugeworfen. Einen Weihnachtsbrief hat er gekriegt, eine Kundin hatte ihn extra dafür angehalten. Vielleicht sind auch da ein paar Scheine drin. Es waren keine der ungeliebten Bürostühle auszuliefern, die immer den Mittelgang des Transporters versperren. Domjan ist zufrieden. Nicht übermäßig abgekämpft. „Ich renne nie“, sagt er. Aber das liegt auch an seinem Zuständigkeitsgebiet Weilimdorf. „Wenn du Stress suchst, musst du in Stuttgart-Mitte fahren.“