Durch den Tunnel in die Freiheit

Franka Scopa, Preisträgerin bei Zeitung in der Schule, erhält auf ihren Bericht hin Post von einem ehemaligen Fluchthelfer, der es selbst auf abenteuerlichen Wegen in den Westen geschafft hat. Eine Geschichte, die deutsche Geschichte greifbar macht.

Durch den Tunnel in die Freiheit

Im Tunnel 57: Hubert Hohlbein half 57 Personen bei der Flucht in den Westen. Fotos: privat

Von Renate Schweizer

BACKNANG. Geschichte fand Franka Scopa schon immer interessant. Geschichte – das war nämlich nicht irgendein trockenes Schulfach, Geschichte war das, was ihre Mutter auf dem Sofa erzählte: Von einem anderen Deutschland, gleich nebenan und doch unerreichbar weit entfernt, 30 Jahre und eine unüberwindliche Grenze weit weg, ein Deutschland hinter Stacheldraht und Todesstreifen, das die Mutter, damals 15-jährig, via Ausreiseantrag verlassen hat. 1988 war das, gar nicht sooo lange her und doch eine andere Welt. Weder im Osten noch im Westen hätte 1988 auch nur ein einziger Mensch einen Pfennig darauf gewettet, dass Grenze, Mauer und Todesstreifen schon bald danach in sich zusammenfallen könnten. Und hätte es doch einer getan – man hätte ihn für verrückt gehalten.

Man rechnete in jenen fernen Tagen hüben wie drüben in Mark und Pfennig, und doch waren es zwei unterschiedliche Währungen, und die Grenze, ja, die Grenze zwischen den beiden Deutschlands, die war für immer und ewig. Deshalb der Ausreiseantrag, das Warten, die Schikanen und dann irgendwann im Spätherbst die nächtliche Fahrt ins Ungewisse, in ein neues Leben, eine neue Heimat vielleicht, hoffentlich...

Die Erlebnisse der Mutter gaben den Anstoß, weiter zu recherchieren.

So erzählte Frankas Mutter. Und als letztes Jahr, 2019, das 30. Jubiläum der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands gefeiert wurde, saßen Mutter und Tochter miteinander vor dem Fernseher und schauten Dokumentationen an über diese Grenze, die Mauer, den Todesstreifen und die Menschen, die sich an der innerdeutschen Grenze aufrieben, unter ihr litten, an ihr starben – und da sah man im Fernsehen auch Menschen, die die Grenze auf abenteuerlichen Wegen überwanden: Sie flogen darüber, schwammen durch oder untertunnelten sie. Nicht wenige zahlten mit ihrem Leben oder langen Gefängnisstrafen für ihren Mut.

Franka, inzwischen fast ebenso alt oder eigentlich jung, wie die Mutter bei ihrer eigenen Ausreise war, war ganz dabei: Sagenhafte Gestalten aus einer anderen Zeit sah sie da, viele noch jung, in kurzen Hosen und überhaupt seltsamen Klamotten, die Frauen mit Lockenwickelfrisuren und Blümchenkleidern – das musste vor der Erfindung der Jeans für alle gewesen sein. (Ja, war es auch, die Mauer wurde 1961 gebaut.) Franka und ihre Mutter fuhren nach Berlin, schauten sich Gedenkstätten an, wanderten den ehemaligen Todesstreifen ab und suchten nach Spuren der ehemaligen Grenze im Großstadtgewühl.

Kurz danach kam die BKZ in Gestalt von Redakteur Florian Muhl an Frankas Schule, und es gab einen Wettbewerb für Nachwuchsreporter. Franka beteiligte sich und schrieb über „Wege in die Freiheit“, über die Geschichte ihrer Mutter und all der vielen anderen, die die ehemalige DDR legal oder illegal verlassen hatten, und sie schrieb unter anderem über einen verwegenen Tunnelbau mitten in Berlin unter dem Todesstreifen und über Hubert Hohlbein, einen jungen Mann, der an diesem Tunnelbau beteiligt war und neben 56 anderen DDR-Bürgern auch seine Mutter mit dieser waghalsigen Aktion in den Westen holte. Der Bericht gewann den ersten Preis des Zisch-Wettbewerbs (Zeitung in der Schule) und wurde in der Backnanger Kreiszeitung veröffentlicht.

Ein paar Wochen später bekam Franka Post aus München, großes Format, drin ein Comic über die Geschichte des „Tunnels 57“ – so wurde er genannt, weil damals insgesamt 57 Personen durch den Tunnel in den Westen flohen. Absender: Hubert Hohlbein, der Hauptheld ihrer Zeitungsgeschichte. „Eine Freundin von mir lebt in Backnang“, so schrieb er ihr, „und sandte mir die Zeitungsinformationen über diesen Wettbewerb nach München. Der Text hat mir sehr gut gefallen, und gleichzeitig war ich doch erstaunt, dass ,meine Story‘ nach so vielen Jahren bis nach Backnang zu einem Schreibwettbewerb in eine Schule gelangte.“

Wahrhaftig eine erzählenswerte Story: Er war nämlich selbst grade mal ein Jahr vor der spektakulären Tunnelbefreiung in den Westen geflohen – in einem selbst hergestellten Taucheranzug und mit sieben Bleigewichten um die Hüften, um tiefer im Wasser zu liegen, durchschwamm er Ende November 1963 den Jungfernsee bei Potsdam. „Wir waren drei Freunde und haben ein Jahr zusammen geplant und trainiert“, so erzählt er der BKZ, „unter Eis schwimmen, zwei Minuten Luft anhalten – es musste ja im Winter passieren, bei möglichst schlechtem Wetter und eiskaltem Wasser.“

Sie haben sich gemeinsam vorbereitet, erzählt er weiter, sind aber dann einzeln hinübergeschwommen. „Das Risiko, dass einem was passiert, dass einer angeschossen wird oder hängen bleibt und die andern dann helfen wollen, war zu hoch.“ In jedem Augenblick ging es um Leben und Tod bei dieser Flucht, das war ihnen klar und jeder trug „nur“ das eigene Risiko. „Wir kannten das Risiko, wir versuchten, es so klein zu halten wie möglich“ – aber die Tatsache blieb, dass sie in jedem Moment um ihr Leben schwammen. Der Plan ging auf, sie sind alle drei durchgekommen, Hubert Hohlbein als Letzter.

Die Akteure wollten dem Staat auch ein Schnippchen schlagen.

Nur ein Jahr später war er dann einer der vier Fluchthelfer, die durch den Tunnel wieder auf die DDR-Seite der Grenze krochen: Die Mutter holen, die Freundin und möglichst viele andere Fluchtwillige – „und ein bisschen ging es schon auch darum, diesem Unrechtsstaat, der die Mauer gebaut hatte, ein Schnippchen zu schlagen“, das erzählt er in einer der TV-Dokumentationen, die fürs Jubiläumsjahr 2019 gedreht wurden. Anfang 20 waren sie alle – die Grenzsoldaten der DDR ebenso wie die Tunnelbauer aus dem Westen.

Dieser Mann sitzt nun also quicklebendig in München, vital und abenteuerlustig wie eh und je. Vor zwei Jahren ist er den Yukon von der Quelle bis zur Mündung hinuntergepaddelt, über 3000 Kilometer im Kanu waren das, er hat in Mexiko gelebt und in Kolumbien – er kalkuliert noch immer gerne Risiken und trifft dann seine persönliche Entscheidung: ein Held zum Anfassen. Kein Wunder, dass Franka ihn gerne an ihre Schule geholt hätte, um auch ihren Mitschülern Geschichte(n) lebendig zu machen. Klappt nun nicht, natürlich nicht, das verhindern derzeit die Coronaverordnungen. Vielleicht im nächsten Jahr. Franka jedenfalls wird dranbleiben. Und Hubert Hohlbein kommt gerne – wenn er denn gerade im Lande ist.

Durch den Tunnel in die Freiheit

Franka Scopa hält den Comic „Tunnel 57“ in der Hand, den Hubert Hohlbein ihr geschickt hat.

Durch den Tunnel in die Freiheit

Lebt heute in München: Hubert Hohlbein.