Ein bisschen Frieden

Popmusik, Politik und Raketen: In Tel Aviv startet der Eurovision Song Contest

Von Bettina Hartmann

Raketen und Boykottaufrufe versus Weltoffenheit und Lebensfreude: An diesem Dienstag beginnt in Tel Aviv der Eurovision Song Contest – und die Show wird schon jetzt von vielen Seiten für die eigenen Zwecke missbraucht.

Tel Aviv Vor dem bunten Holzrahmen im Stadtteil Jaffa stehen Touristen aus aller Welt Schlange. Der Rahmen gibt den Blick frei auf Tel Avivs Strände und die Skyline – und ist somit wohl eines der derzeit schönsten und beliebtesten Fotomotive in Israel. Mit Dutzenden dieser Rahmen sowie dunkelblauen ESC-Logos und -Plakaten wird seit Wochen der Eurovison Song Contest (ESC) beworben, der an diesem Dienstag in der sonnenverwöhnten Küstenmetropole beginnt und am Samstag mit dem großen Finale­ endet­. „Dare to dream“ ist darauf zu lesen – „Trau dich, zu träumen“.

„Das Motto passt zu uns Tel Avivern“, sagt Michelle, „denn wir leben hier in einer Art Blase, in gewisser Weise abgetrennt vom Rest des Landes.“ Tel Aviv stehe für Welt­offenheit, Vielfältigkeit­, pulsierendes Nachtleben und innovative Küche – und komme dem Bild von einer modernen, westlichen Großstadt sehr nahe. Michelle muss es wissen, sie arbeitet für eine Organisation, die junge Juden im Ausland betreut, und kommt viel herum. Und sie ist sich sicher: Nirgendwo sonst kann man besser ausblenden, in welch komplexem und kompliziertem Land man lebe. Die Sperranlagen zu den Palästinensergebieten­,­ die omnipräsenten Militärstreifen, die Truppenübungen und Kampf-Jet-Flüge – alles weit weg.

Dass Anfang Mai fast 700 Raketen von militanten­ Palästinensern aus dem Gaza-Streifen auf Israel abgeschossen wurden, was sogleich mit einem israelischen Gegenschlag beantwortet wurde und 20 Tote forderte, habe man in der Stadt wahrgenommen: „Aber nervös wird deshalb keiner.“ An einem Tag herrsche Krieg – „am anderen ist es wieder so, als sei nie etwas passiert“.

Und tatsächlich, kurz nach dem heftigsten Gewaltausbruch im Gaza-Konflikt seit 2014 verständigte sich die israelische Regierung mit der in Gaza herrschenden Hamas auf eine Waffenruhe. „Das hat uns Millionen Euro gekostet“, kommentiert Dalya die Einigung. Millionen, die wohl „wie immer in den Kauf von Waffen, statt in den Aufbau von Infrastruktur im Gaza-Streifen fließen“, fügt die Uni-Dozentin sarkastisch hinzu.

Offiziell erfahre man über solche Deals natürlich nichts. Dafür kursiere im Land derzeit ein Witz: „Wer ist der teuerste Star, der beim ESC auftritt? Madonna, die in der Pause singt? Quatsch, Hamas-Chef Ismail Hanija!“ Der Zeitpunkt der Angriffe sei bewusst gewählt gewesen: „Damit wollten die Hamas­ und der Palästinensische Islamische Jihad provozieren.“ Um ein Gefühl der Unsicherheit aufzubauen, um Touristen und vielleicht sogar die ESC-Teilnehmer zur Absage zu zwingen. Um gegen die seit zehn Jahren andauernde Blockade des Gaza-Streifens zu protestieren – und um zu demonstrieren, dass der ESC in Israel ein Politikum ist.

Das zeigte sich schon 2018 in Lissabon, wo Netta Barzilai mit ihrem Lied „Toy“ Israel zum Sieg sang. „Next year in Jerusalem“, „nächstes Jahr in Jerusalem“, kündigte die Kulturministerin Miri Regev an. Denn sie wollte den umstrittenen Status als Israels Hauptstadt stärken – was zu massiven Konflikten geführt hätte. Nicht nur mit der Hamas und ausländischen Staaten. Jerusalem als Austragungsort wäre auch den dort dominierenden­ ultraorthodoxen Juden ein Dorn im Auge gewesen. Das Finale der bunten Pop-Show, Strenggläubigen ohnehin ein Inbegriff der Sünde, findet am Sabbat statt, einem Tag also, an dem das öffentliche Leben vielerorts im Land zum Erliegen kommt.

Schließlich fiel die Wahl doch auf Tel Aviv. „Gut so“, sagt Dalya. „Hier freuen sich die meisten nämlich schon wie verrückt auf den ESC.“ In der ganzen Stadt gibt es Veranstaltungen und Feste, die Halbfinals und das Finale werden auf großen Leinwänden übertragen. „Die Stimmung ist gut“, bestätigt auch Sascha Gottschalk aus Pinneberg, der mit einem Kollegen einen Fan-Podcast zum ESC betreibt und schon seit einigen Tagen vor Ort ist. „Klar gibt es viele Sicherheitschecks. Aber das gehört hier zum Alltag“, sagt der ESC-Experte.

Ist trotzdem noch eine Absage des Wettbewerbs zu befürchten? Die Europäische Rundfunkunion EBU, Veranstalterin des ESC, teilte mit, man arbeite mit der israelischen Rundfunkanstalt KAN und der Armee zusammen, „um die Sicherheit aller Teilnehmer und Gäste zu gewährleisten“. Auch Iris Bents, Sprecherin des NDR, der in Deutschland für den ESC zuständig ist, geht davon aus, dass der Wettbewerb „weiterhin ungestört stattfindet“. Carlotta Truman und Laurita, die als S!sters für Deutschland antreten, hätten schon die ersten Proben absolviert. Man sei gelassen. „Wir nehmen auch keine verstärkte Militärpräsenz wahr.“ Es werde „ein normaler, friedlicher Wettbewerb“, sagt Gottschalk. Nicht ganz so normal findet er dagegen die Preise in Tel Aviv: Um 250 Euro für ein Final-Ticket seien üblich, „doch hier hat man mit bis zu 500 Euro ordentlich­ draufgepackt.“ Für finanziell weniger solvente Fans, etwa aus Rumänien oder Polen, sei die Anreise auch deshalb fast unmöglich, da Hotels zunächst übertriebene Zuschläge verlangten. „Wahrscheinlich zieht es in den nächsten Tagen noch an“, vermutet Gottschalk. Doch einen Touristenansturm spüre man derzeit noch nicht.

Israel liege im Trend, sagt Anja Braun, die Pressesprecherin des Reiseunternehmens Tui in Deutschland. „Wir verzeichnen ein kräftiges Buchungsplus. Vor allem Tel Aviv ist gefragt.“ Wer eine Reise nach Israel plane, wisse, dass das Land immer mal wieder im Fokus politischer Konflikte stehe. Die Reaktion der Kunden sei auch dieses Mal „entsprechend gelassen“: „Anfragen nach Stornierungen haben uns nicht erreicht.“

Dennoch, die israelische Torismusbranche hatte sich einen stattlichen Werbeeffekt für das Land erhofft. Bisher scheinen sich die Erwartungen noch nicht ganz zu erfüllen. Ãœber Hotelbuchungsportale sind noch genügend Zimmer zu haben – inzwischen sogar wieder zu zivilen Preisen. Vielleicht verhielten sich die ausländischen Touristen neuerdings wie die Israelis, mutmaßt die Jugendarbeiterin Michelle: „Da nichts sicher ist, entscheiden wir alles in letzter Sekunde“, erklärt sie und lacht. „Und noch was: Wir wissen zu feiern!“ Dass es dieses Jahr für Israel erneut zum Sieg reicht, wagt sie allerdings zu bezweifeln: „Das Lied ‚Home‘ von Kobi Marimi kommt hier nicht gut an.“ Als Favoriten würden dagegen Island und die Niederlande gehandelt. Und wie sieht es mit dem deutschen Beitrag aus? „Da muss noch ordentlich an den Stellschrauben gedreht werden“, findet ESC-Experte Gottschalk. Aber wer weiß, vielleicht heißt es am Samstagabend ja doch „Germania, stemesre nikudot – Deutschland, zwölf Punkte!“ Träumen wird man sich wohl noch trauen dürfen.