Ein untergehendes Kulturgut

Susanne und Heinrich Schneider hegen und pflegen bei Kurzach einen alten Bestand an Weichselkirschenbäumen. Die glasigen, leuchtend hellroten Früchte haben viele Freunde. Meist bilden sie den Stoff für Marmelade oder Kuchen.

Ein untergehendes Kulturgut

Im lichtdurchfluteten Kirschenhain pflücken Susanne und Heinrich Schneider die Kirschen von einem der Bäume, die am Kurzacher Sonnenhang stehen. Foto: U. Gruber

Von Ute Gruber

SPIEGELBERG. Gleich neben dem gepflegten, kleinen Fachwerkhaus führt eine steile Staffel aus alten, handbehauenen Sandsteinen hinauf in den sogenannten Wengert. Vorbei an dem gewaltigen, denkmalgeschützten Holzbackofen, der etwas überdimensioniert wirkt für das zierliche Doppelhäuschen mit dem windschiefen Dach.

Die Erklärung findet sich weiter oben am Hang: Am sonnenverwöhnten Südhang über dem Dörfchen Kurzach gedeihen trotz der Höhenlage von 463 Metern über dem Meer unzählige verschiedene Obstarten und -sorten: Zwetschgen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Hutzelbirnen... „Viele Früchte wurden mit der Restwärme vom Brotbacken gedörrt und dann in die Stadt verkauft“, erläutert Susanne Schneider die großzügigen Abmessungen der beiden Backfächer. Unter dessen Ziegeldach außerdem noch die familieneigenen Hühner ein warmes Plätzchen fanden.

In der sonnenverwöhnten Lage gab es früher sogar Weinstöcke.

„Als meine Mutter Martha Schuh (Jahrgang 1913) jung war, hatten sie hier scheint’s auch Weinstöcke dazwischen“, erklärt die 79-Jährige den im Schwäbischen Wald eher unerwarteten Gewannnamen. Die gebürtige Heilbronnerin lebte in den 1940er-Jahren während und nach dem Krieg viel bei der Kurzacher Großmutter und bewohnt das denkmalgeschützte Anwesen heute zusammen mit ihrem Gatten Heinrich. Bewusst erhalten die beiden es im Zustand von vor bald 100 Jahren: inklusive Holzherd, fließend Kaltwasser und Plumpsklo auf der Veranda. Strom gibt es nur fürs Licht – keine Waschmaschine, keine Zentralheizung, nicht mal ein Kühlschrank.

Tatsächlich sind an diesem sonnigen Hang, an dem es hinaufgeht wie am Hausdach, teilweise noch ehemalige Weinterrassen zu erkennen. Kurzacher Sommerseite – ein Tröpfchen eher für den Eigenbedarf. Heute prägt eine andere Frucht das steile Gelände: In lockeren Abständen stehen alte, aber dennoch zierliche Kirschbäumchen auf der blühenden Wiese – Weichselkirschen. Ab Ende Juni sind die glasigen, leuchtend hellroten Sauerkirschen reif.

Im Bekanntenkreis sind die saftigen Kirschen, die bequem ohne Leiter zu pflücken sind, heiß begehrt. Andrea Baumhakl kommt jedes Jahr extra aus Sulzbach zur Ernte in ihre alte Heimat Kurzach, „wenn ich darf!“. Sie schätzt die erfrischende Säure der Frucht, die sich ganz ohne Hilfsmittel locker vom Stein ziehen lässt und dabei nicht einmal die Hände färbt, und kocht daraus ihre Lieblingsmarmelade: „A Scheibe frisches, selbst gebackenes Brot mit Weigsl-Gsälz – nix besser’s!“ Auch im Kuchen machen sich die sauren Früchtchen gut, und was übrig bleibt, „des holt der Gerhard sich zum Brennen“.

Warum aber findet man diese Wunderfrüchte nirgends im Handel, wo doch heute die exotischsten Produkte zu finden sind? „Mal gepflückt sind die leider ganz schlecht haltbar“, erklärt Helmut Krauß mit Bedauern. Der Gärtnermeister aus Abstatt hat ein Faible für Wildobst und alte Sorten: „Weichseln sind früher wild an den Hecken aufgegangen. Das ist für mich ein untergehendes Kulturgut – wär schade, wenn’s verschwindet.“

Deshalb unterstützt er Familie Schneider in ihrem Bemühen, den Kurzacher Bestand zu schützen, und hat sie an die Baumschule Schieber in Weissach im Tal vermittelt.

Kurt Schieber erlebt oft, „dass Leute einen guten Baum im Garten haben und den vermehrt haben wollen“. Dann nimmt er vom Favoriten ein Auge, sprich eine ruhende Knospe und setzt sie bei einem fingerdicken Wildling, also einer robusten Unterlagspflanze, in die Rinde ein. „Jetzt im Juli/August wächst das innerhalb von Tagen an.“ Dann wird der Wildlingstrieb oberhalb der Edelknospe abgeschnitten, und fortan geht alle Kraft in die neue Lieblingspflanze.

Laut Obstbauberaterin Ute Tränkle vom Landratsamt in Backnang gewährleistet nur diese vegetative Art der Vermehrung eine sortenechte Fortpflanzung. Bei Anzucht aus einem Kirschkern weiß man im Allgemeinen ja nicht, woher der väterliche Pollen kam. Der aber stellt die Hälfte der Gene der neuen Pflanze. Ob es sich bei den Kurzacher Sauerkirschen nun um eine eigene Sorte handelt oder eine bereits bekannte, muss erst noch festgestellt werden. Was nicht ganz einfach ist: „Da kann man nicht einfach die Frucht anschauen wie beim Apfel, wo es verschiedene Farben, Formen, Oberflächen und Kernhäuser gibt“, beschreibt Ulrich Mayr das Problem, „bei den Kirschen geht die Sortenbestimmung primär über das Aussehen des Steines. Und das beherrschen nur wenige Spezialisten.“ Als Leiter der Sortenerhaltungszentrale am Kompetenzzentrum Obstbau – Bodensee in Bavendorf läge eine mögliche Sortenerhaltung in seinem Aufgabenbereich: „Wir sind immer dankbar für solche Hinweise.“

Eigene Sorte oder nicht – Gärtner Krauß hat jedenfalls schon eine Idee, wie die aromatischen Kirschen trotz Haltbarkeitsdefiziten wieder zu Ehren kommen könnten: „Die Hausgärten werden ja immer kleiner, da hat doch eh keiner Platz für einen großen Baum. So ein Weichselbäumchen könnte man geschickt in die Hecke integrieren.“ Zum Beispiel in ein Schlehen-Liguster-Gebüsch, wo er in der Natur verwildert auch vorkommt. Zum raschen Verarbeiten oder einfach, um die Früchte vom Strauch zu naschen – köstlich.

Der Name Weichselkirsche hat keine geografische Bedeutung

Es gibt Sauerkirschen mit färbendem Saft – zum Beispiel die bekannte Schattenmorelle – und solche, deren Saft farblos ist. Letztere werden auch Glaskirschen oder Amarellen genannt. Auch im Säuregehalt gibt es Unterschiede, für den Frischverzehr empfehlen sich die minder sauren Sorten.

Man unterscheidet zwischen Baum- und Strauchkirschen, wobei sich die Wuchsform auch durch die Wahl der Unterlage gut beeinflussen lässt. So ausladend wie manche Süßkirschenbäume werden Sauerkirschen ohnehin nicht.

Unter den Glaskirschen gibt es viele, die resistent gegen Krankheiten wie Monilia-Spitzendürre sind und sich deshalb für den Hobbyanbau gut eignen, zum Beispiel „Ludwigs Frühe“ – im Gegensatz etwa zur hoch anfälligen Schattenmorelle.

Im Gegensatz zu Süßkirschen sind viele Sauerkirschsorten selbstfertil, das heißt, dass sie keinen anderen Kirschbaum als Pollenspender in der Nähe brauchen, um Früchte zu erzeugen. Allerdings kann ein weiterer Baum in der Nähe den Ertrag steigern.

Sauerkirschen gedeihen am besten auf warmem Boden an einem sonnigen, windgeschützten Standort.

Die Sauerkirsche wurde 1753 von Linné als Prunus cerasus erstbeschrieben. Es gibt sie jedoch schon seit Jahrhunderten, sie wird auf der ganzen Nordhalbkugel kultiviert.

Die Art verwildert häufig, es sind jedoch bisher keine echten Wildvorkommen bekannt. Man vermutet, dass sie aus einer Kreuzung von Vogelkirsche und Steppenkirsche entstanden ist.

Die Name Weichsel weist nicht auf die Herkunft dieser Kirschen hin, selbst wenn sie auch entlang der Weichsel gedeihen mögen. Vielmehr leitet er sich aus dem althochdeutschen Wort „Wihsel“ für Wildkirsche ab.