Eine andere Zeit in einem anderen Land

Anestis Gogos und Annoula Gogou sind seit 65 Jahren verheiratet und freuen sich auf das zweite Urenkelkind.

Eine andere Zeit in einem anderen Land

Annoula Gogou und Anestis Gogos feiern das seltene Fest der eisernen Hochzeit. Foto: J. Fiedler

Von Renate Schweizer

BACKNANG. 65 gemeinsame Jahre – es gibt nicht viele Paare, denen es vergönnt ist, das seltene Fest der eisernen Hochzeit miteinander zu feiern. Anestis Gogos und Annoula Gogou sind so ein gesegnetes Paar: 1956 haben sie geheiratet. 1956 – unglaublich – es war eine andere Zeit und ein anderes Land, Griechenland nämlich. Daher kommt auch die Ungleichheit ihrer Nachnamen. In Griechenland, wo sie lebten, sich fanden und zusammenkamen, ist das Namensrecht anders: Er behält die (männliche) Form des Nachnamens, sie nimmt seinen Namen an, aber in weiblicher Form: Gogos und Gogou.

Auf einer der legendär großen griechischen Hochzeiten hatten sie sich kennengelernt. „Ich wusste gleich: Die ist es“, erzählt Anestis verschmitzt, „in meinen Augen war sie die Schönste von allen.“ Zwei lange Jahre Militärdienst musste er ableisten, bevor sie heiraten konnten. Schließlich war es so weit. 1958 kam ihr Sohn Georgios zur Welt. Im selben Jahr kauften sie ein Haus. Georgios, der im Interview dabei ist und gelegentlich Fakten, Daten und Sprachen sortieren hilft, grinst: „Das Haus steht noch und ist bis heute ihre ‚Rentnerburg‘. Von April bis Oktober waren sie jedes Jahr dort – bis Corona kam.“

Als 1939 der Zweite Weltkrieg begann und die Schulen in Griechenland geschlossen wurden, war Anestis acht Jahre alt. Nach Kriegsende hat er die entgangene Schulzeit innerhalb von zwei Jahren nachgeholt: „Ein Vierteljahr saß ich in der 3. Klasse, ein Vierteljahr in der 4. und immer so weiter.“ Er war da 14 – und seine Mitschüler „klein halt, sie waren echte Drittklässler“. Ohne jede Bitterkeit erzählt er das, im Gegenteil, fast schimmert da etwas wie Stolz durch, trotz schlechter Voraussetzungen so viel geschafft zu haben. Mit 17 begann er, als Schlosser zu arbeiten. Mit 25 hatte er Familie im nachkriegsgebeutelten Griechenland: Anestis und Annoula beschlossen auszuwandern und zwar nach Brasilien. Sie lernten Portugiesisch, sie fingen an, ihre Sachen zusammenzupacken, sie hatten die Papiere – und im letzten Moment disponierten sie um. Verwandte und Bekannte aus dem Dorf waren in Deutschland und sagten: Kommt doch hierher, in Deutschland gibt es Arbeit für euch. In der Spinnerei Adolff in Backnang könnt ihr gleich anfangen.

Der damals zweijährige Georgios musste zurückbleiben – Kinder mitzubringen war für die „Gastarbeiter“ dieser ersten Generation nicht vorgesehen. An dieser Stelle übernimmt Annoula die Erzählung und das geht gar nicht in dem schönen Schwäbisch, das sie sonst spricht: Zu erschütternd ist die Geschichte bis heute, das muss sie auf Griechisch erzählen, Georgios übersetzt: Das Heimweh nach ihrem Sohn war grenzenlos. Schichtarbeit im fremden Land, Gemeinschaftsunterkunft, das Teilen von Küche und Badezimmer mit anderen. All das hätte sie ausgehalten. Aber nicht die Trennung von ihrem Kind. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus, und die Schwiegermutter brachte Georgios in endloser Zugfahrt nach Backnang zu seinen Eltern. Aber der Chef blieb hart: „Kinder verboten“, und der Kleine musste wieder zurück – für zwei Monate, danach durfte er offiziell einreisen. Das konnte Annoula damals aber noch nicht wissen – man braucht nicht viel Fantasie, um sich ihren herzzerreißenden Schmerz vorzustellen. 1962 kam dann der zweite Sohn Theodoros zur Welt – das war problemlos, Kinderkriegen war erlaubt, nur Kindermitbringen nicht. Sie bekamen eine Werkswohnung für sich alleine, die Kleinen gingen in den Betriebskindergarten der „Spinne“, und die Eltern arbeiteten in Wechselschicht, damit immer jemand da war, um nach den Kindern zu sehen. „Meine Schwiegermutter“ – das erzählt Georgios’ Frau Beate – „hat bis zur Rente immer gearbeitet – sie hatte nie Kinderpause.“ Auch da klingt ein bisschen Stolz mit und ganz viel Respekt vor der Lebensleistung der Schwiegermutter. Die Kinder wuchsen heran, die Eltern arbeiteten, und „nebenher“ stürzte sich Anestis in die „Integration“ – freilich ohne dieses Wort jemals zu benutzen. Er wurde Mitglied der IG Metall, Betriebsrat der Spinnerei, er ist Gründungsmitglied des griechischen Sportvereins SV Großer Alexander, gründete, kickte und trainierte die Fußballmannschaft, pfiff die Spiele der TSG und organisierte 25 Jahre lang die griechisch-orthodoxen Gottesdienste der Gemeinde Apostolos Pavlos in der oberen Sakristei der Stiftskirche mit. Mit 41 Jahren machte er den Facharbeiterabschluss als Mechaniker an der Berufsschule Backnang – das Examensdokument hängt auch fast 50 Jahre danach noch im Flur – und kürzlich hat ihm die IG Metall für 60 Jahre Mitgliedschaft eine Uhr mit Kette überreicht. Oh ja, es klingt mehr als nur ein bisschen Stolz durch, wenn er erzählt. Und Dankbarkeit. Ob es wohl dieses Jahr noch was wird mit dem Sommer in Griechenland? Das kann man nicht wissen, und so furchtbar wichtig ist es auch gar nicht: In sechs Wochen erwarten sie das zweite Urenkelkind.