Eine fast versteckte Waldweihnacht

Seit Jahren gibt es im Wald bei Großerlach zur Weihnacht einen geschmückten Baum. Dieses Jahr gesellt sich eine Krippe hinzu und die Macherinnen geben sich zu erkennen. Es ist eine schlichte Aktion ohne Getöse. Trotzdem oder deshalb hat sie besonderen Reiz.

Eine fast versteckte Waldweihnacht

Vor dem Lockdown, zu Beginn des Advents, haben sie einen Weihnachtsbaum im Wald geschmückt (von links): Marianne Kübler, Inge Geiger, Marianne Wizemann und Waltraud Wanke. Fotos: A. Becher

Von Nicola Scharpf

GROSSERLACH. Die Geschichte ist schnell erzählt: Vier Frauen im Rentenalter treffen sich dreimal in der Woche, um miteinander laufen zu gehen. Einmal im Advent nehmen sie Christbaumschmuck mit, um damit einen Nadelbaum mitten im Wald bei Großerlach zu dekorieren. Nach den Heiligen Drei Königen hängen sie die Kugeln wieder ab. So kurz, so gut, so unspektakulär. Mehr passiert hier nicht. Kein Singen unterm Weihnachtsbaum mit großem Publikum, Plätzchen, Punsch und Posaunenchor. Kein Veranstalterteam, das von Aufwand und Hintergrund seiner Aktion berichtet. Und in diesem Jahr kein pandemiebedingt abgesagtes Event, das eine Lücke hinterlässt. Die Geschichte könnte zu Ende sein.

Sie beginnt aber an einem der vereinzelten Morgen im diesjährigen Advent, an dem in der Nacht zuvor Schnee gefallen ist. Der Forstweg, der am Parkplatz des Skilifts vorbei in den Wald führt, ist genauso weiß wie das Gelände und die Baumspitzen ringsrum. Wenige Spuren von Schuhen und Pfoten zeugen von frühen Fußgängern. Es ist schwerer Schnee, der wohl bald schmelzen und die Winterwaldstimmung mit sich nehmen wird. Vorbei an einer Christbaumkultur führt der Weg immer geradeaus, bis es an einer Gabelung zwischen Weiß und Braun und Dunkelgrün rot schimmert. Da steht sie still am Wegesrand zwischen vielen anderen Exemplaren: eine Fichte, an deren Zweigen dunkelrote Christbaumkugeln baumeln. Heute tragen sie weiße Hauben, morgen vielleicht nicht mehr. Ist heute schon jemand hier staunend stehen geblieben, weil ihn der Anblick eines geschmückten Baums mitten im Wald überrascht hat? Hat jemand den Weihnachtsbaum achtlos links oder rechts liegen lassen, weil er auf der üblichen Spazierrunde im Advent zur Gewohnheit gehört? Wird der Baum heute noch bewusst angesteuert, weil beispielsweise eine Familie ihn zu ihrem Ausflugsziel auserkoren hat? Oder versucht ein Vögelchen, sich auf eine der Kugeln zu hocken, schnuppert ein Eichhörnchen am Glas? Man weiß es nicht und wird es nicht erfahren – auch diejenigen nicht, die den Baum geschmückt haben. Die Resonanz auf den Christbaum entspringt und bleibt womöglich im Reich der Fantasie.

Im Verborgenen ist bislang geblieben, wer den Baum Jahr für Jahr schmückt. An diesem Morgen biegen vier Frauen um die Kurve des Waldwegs, so wie sie es montags, mittwochs und freitags immer tun, wenn sie auf ihrer Laufrunde unterwegs sind. Normalerweise schenken sie dem Baum nur an den Tagen, an denen sie ihn schmücken und den Schmuck wieder abhängen, Beachtung. Heute machen sie halt, um zu erzählen. Seit elf Jahren drehen die vier gemeinsam ihre Morgenrunde. Ungefähr seitdem schmücken sie im Advent auch einen Nadelbaum, wobei sich das Exemplar im Lauf der Jahre ändert. Mal wird ein Baum gefällt, mal wächst einer so hoch, dass sich die Kugeln nicht mehr an seinen obersten Zweigen befestigen lassen. Jedenfalls hat Waltraud Wanke, mit ihren 80 Jahren die Älteste im Quartett, bei Waldspaziergängen zur Weihnachtszeit vor Jahrzehnten schon Kerzen an Zweige gezwickt und ihre Kinder so zum Staunen gebracht. „Mit einem Maienbaum hat es begonnen“, berichtet sie von den Anfängen des Baumschmückens mit ihren Läuferfreundinnen. Zum 1. Mai versehen die Frauen einen Baum mit „bunten Fähnele“, zu Ostern bekommt eine Birke ihrer Wahl Eier angehängt und zur Weihnacht sind es eben Kugeln für die Fichte. „Mal sind es rote Kugeln, mal bunte“, sagt Inge Geiger. Und zur Vorgehensweise ergänzt Marianne Wizemann: „Die einen hebet’s, die anderen hängen’s dran.“ „Das ist ein Klacks“, bewertet Marianne Kübler, die Größte in der munteren Truppe und fürs Herunterziehen der Zweige zuständig, den Aufwand der Aktion.

Neben dem Christbaum versteckt sich eine Krippe im Unterholz.

In diesem Jahr ist es nicht bei einem behängten Baum geblieben. Marianne Küblers Mann Karl-Günther hat früher in der Schreinerei der Erlacher Höhe gearbeitet und von damals noch selbst gefertigte Krippen. Die naturbelassenen Figuren hat er mit schützendem Bienenwachs eingerieben, damit sie ihren ersten Einsatz im Winterwald wohl überstehen. Nun kuscheln sie sich unmittelbar neben dem Christbaum ins Unterholz. Bedeckt mit Nadelzweigen und eingebettet in ein Lager aus Blättern und Ästchen wirkt Bethlehems Stall fast versteckt. Ein einsamer Stern in Gold baumelt im Zweig darüber und weist dem Auge des Betrachters den Weg zur Szene von Jesu Geburt. Schemenhaft sind die Figuren gehalten, das Holz einer jeden ist verschieden gemasert, karg die Ausstattung des Stalls. Die Wolle der Schäfchen besteht aus Schnee, auch die Engel und Hirten sind heute in ein weißes Gewand gehüllt. Im Schein eines warmen LED-Lichtleins ducken sich stumm Maria und Josef, Ochs und Esel behütend über das Kind. Geheimnis-, fast verheißungsvoll liegt Ruhe über diesem waldeskühlen Ort. Die Frauen betrachten ihr Projekt an der Weggabelung. Schlicht stellen sie fest: „Es ist eigentlich eine schöne Ecke.“

Ob bewusst oder unbewusst, die Frauen haben mit ihrem Arrangement ein Angebot geschaffen, wie es sich besser nicht einfügen könnte in eine pandemiegeprägte Advents- und Weihnachtszeit, in der sich viele Menschen eingeschränkt fühlen. Hier wurde nichts abgesagt, hier fehlt nichts. Es ist alles da für ein persönliches Weihnachtserlebnis – man muss es nur finden. Danke für dieses Geschenk.

Eine fast versteckte Waldweihnacht

Mit Zweigen bedeckt kuschelt sich die Krippe ins Unterholz. Ein goldener Stern weist den Weg.