„Eine schmerzliche Unterbrechung ist eingetreten“

Ein Gastbeitrag von Wilfried Braun, Dekan des Kirchenbezirks Backnang, zu den höchsten christlichen Feiertagen in diesem Jahr

Was über Jahrhunderte hin selbst in Kriegs- und Notzeiten undenkbar war inunserem Land, geschieht in diesen Tagen: An den höchsten christlichen Feiertagen der Kar- und Osterzeit bleiben die Kirchen leer.

„Eine schmerzliche Unterbrechung ist eingetreten“

Schlussstein Osterlamm mit Auferstehungsfahne in der Sakristei der Backnanger Stiftskirche. Foto: Eric Biller

Von Wilfried Braun

BACKNANG. Nun muss man sagen, dass bereits in den letzten Jahrzehnten – Osternachtfeiern und geistliche Konzerte ausgenommen – die Zahl der Teilnehmenden an diesen Festgottesdiensten stetig zurückgegangen ist. Aber die vollkommene Leere in diesem Jahr ist ja nicht die Fortsetzung dieses Trends, sondern die Folge einer staatlichen Verordnung. Quasi über Nacht sind wir zum Nachdenken darüber gezwungen, was es mit dem Gottesdienst überhaupt und mit den Passions- und Ostergottesdiensten im Besonderen auf sich hat.

Um es vorweg zu sagen: In evangelischer Anschauung meint Gottesdienst nicht, dass wir durch den sonntäglichen Kirchgang Gott zu dienen hätten. Viel eher umgekehrt: Gott dient uns. Und nicht selten haben Menschen die Erfahrung gemacht, dass die Stunde, in der sie am Sonntagmorgen aus den Gewohnheiten des Alltags herausgetreten sind, ihnen diesen Tag und die beginnende Woche nicht ärmer, sondern reicher gemacht hat.

Aber nun ist auch für die, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, am Sonntag – oder mindestens an den hohen Feiertagen – in die Kirche zu gehen, eine schmerzliche und herausfordernde Unterbrechung eingetreten. Ich weiß nicht, ob Sie zu denen gehören, die an Internet-, Fernseh- oder Radiogottesdiensten teilnehmen, ob Sie sich abends vom Ruf der Glocke zu einem Gebet für sich, Ihre Lieben, unser Land und die Welt einladen lassen oder am Ostersonntag in den um 10.15 Uhr bundesweit erklingenden Auferstehungsruf „Christ ist erstanden“ einstimmen werden. Mit diesen Zeilen jedenfalls möchte ich Sie einladen, der Besonderheit dieser Tage ein wenig nachzuspüren.

Gründonnerstag

Ob ein alter Brauch, an diesem Tag grüne Kräuter zu essen, die liturgische Farbe Grün, die frühere Praxis, Bußwillige an diesem Tag wieder in die Kirche, das heißt in den grünen Bereich aufzunehmen, oder die althochdeutsche Wurzel grinen, das heißt klagen über die Gefangennahme Jesu, für den Namen Pate gestanden hat, ist nicht geklärt. Von den biblischen Berichten her könnte der Gründonnerstag auch Tag der bezahlten Rechnungen heißen. Da ist zunächst Judas Ischariot, einer der engsten Freunde Jesu. Wahrscheinlich aus Enttäuschung fasst er den Plan, Jesus zu verraten. Den damaligen Aufsichtsbehörden ist das 30 Silberlinge wert, etwa 5000 Euro. Und sie zahlen bar und sofort.

Und dann ist da Jesus selbst, der für seine Jünger und sich nach jüdischem Brauch das Passahlammfestessen vorbereiten lässt. Als sie dann aber zu Tisch sitzen, nimmt er das Brot, spricht das Dankgebet, teilt es an alle aus und sagt: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Genauso nimmt er den Weinkelch und sagt: Das ist mein Blut, das für euch und für alle Menschen vergossen wird zur Vergebung der Sünden, das heißt, eure Lebensrechnung ist damit bezahlt. Die rettende Kraft aus diesem Geschehen ist dem Petrus erst nach der dunkelsten Stunde seines Lebens aufgegangen, in der er seinen besten Freund verleugnet hatte. Mich persönlich fasziniert am meisten, dass Jesus dieses rettende Wort auch seinem Verräter Judas zugesprochen hat, der in diesem Moment mit am Tisch saß.

Karfreitag

Die Evangelien der Bibel erzählen davon, dass Jesus an seinem Todestag vielen Menschen begegnet ist. Soldaten, die ihn schlugen und auslachten, Machthabern, die ihn aus dem Weg räumen wollten, dem Bauern Simon von Kyrene, der gezwungen wird, ihm das Kreuz zum Hinrichtungsplatz zu tragen, und zweien, die als Verbrecher mit ihm gekreuzigt werden. Einer davon ergreift in seinen letzten Atemzügen die Chance seines Lebens. Und dem Hauptmann des Hinrichtungskommandos wird erst bewusst, dass er Handlanger eines Justizirrtums geworden ist, als es für Jesu Leben schon zu spät ist. Für das des Hauptmanns aber noch nicht.

Unrecht vermehren oder vermindern? Das ist eine der Fragen, die der Karfreitag auch uns stellt.

Statt sträflichen Zögerns ein entschiedenes Beistandszeichen für die Länder Italien und Spanien, statt wochenlangem Hin und Her ein kräftiges Rettungszeichen für die Kinder in den griechischen Flüchtlingslagern. Und: Wäre es nicht an der Zeit, auch unter uns deutliche Zeichen der Versöhnung zu setzen, zum Beispiel in einer Aktion 10 Prozent, will sagen: Wer in diesen Coronakrisenmonaten sein normales Einkommen hat, verzichtet zwei, drei Monate freiwillig auf 10 Prozent seines Einkommens, um andere zu unterstützen, die gerade empfindliche Einbußen hinnehmen müssen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube nicht, dass wir damit die Welt retten können. Aber das müssen wir auch nicht. Das hat ein anderer schon getan. Am Karfreitag. Aber warum nicht kleine Zeichen setzen, die es anderen erleichtern, daran zu glauben?

Nicht der mächtige Stier, Gottesbild so vieler antiker Tempel, und nicht der stolze Löwe, Wappentier so vieler Herrscher bis heute – das Lamm wurde zum deutlichsten Symbol für Jesus und seinen Weg. Schon bald nach Jesu Tod ist seinen Freunden die Kraft dieses Bildes aufgegangen. Das Lamm, das sie sich und ihrem Herrn zum Passahfest zubereitet hatten, half ihnen im Nachhinein, die schrecklichen Geschehnisse des Karfreitags zu verstehen. Ganz eindrücklich ist das auch in der Sakristei der Backnanger Stiftskirche zu sehen, die allerdings als Baustelle im Moment nicht zugänglich ist: Der erste Schlussstein im Osten zeigt Christus als Lamm. Anders als Stier oder Löwe tut es nie jemandem Gewalt. Aber: Es dient den Menschen als Nahrung. Sein Tod hilft anderen zum Leben.

Ostern

Ostern beginnt nicht mit Osterhasen, sondern mit Angsthasen. Das machen wir uns kaum mehr bewusst, wenn wir die lachenden Schokoteile verschenken. Am Anfang war da nichts Süßes, sondern ein Jenseitsschrecken. Das Markusevangelium, die wahrscheinlich älteste Erzählung dieser Ereignisse, endet in seiner ursprünglichen Fassung mit der Flucht der Frauen vom leeren Grab. Ganz so, als ob nicht festgelegt sein sollte, wie sich die Auferstehung Christi im Leben der Einzelnen zeigen würde. Klar war aber die Wirkung: Beim anfänglich erschreckten Fliehen und Schweigen ist es nicht geblieben. Die Botschaft, dass Gott Jesus nicht im Tod gelassen, sondern auferweckt hat, die gewisse Hoffnung, dass das Leben stärker ist als der Tod, hat ihren Lauf von Jerusalem aus durch die ganze Welt genommen und durch die Jahrhunderte hindurch bis heute. Und kein noch so heimtückisches Virus wird sie entkräften können. Das haben schon unsere Vorfahren erlebt und deshalb das Christuslamm mit der Siegesfahne der Auferstehung dargestellt.

Brannte nicht unser Herz? Waren wir nicht Feuer und Flamme, als uns der Fremde das Karfreitagsgeschehen aus den Heiligen Schriften heraus erklärte? So fragen sich zwei der ersten Auferstehungszeugen in meiner Lieblingsostergeschichte. Lukas überliefert sie im letzten Kapitel seines Evangeliums und sie atmet den Geist der Osterfreude, der heute noch erlebbar ist, wo Menschen nicht allein bleiben mit ihrer Trauer und ihren Fragen. Worte der Bibel, Gespräche mit anderen – und sei es am Telefon oder per E-Mail, Erfahrungen von Begleitung und Hilfe – auch ohne die in anderen Zeiten mögliche leibliche Nähe, das alles kann zu einer Ostererfahrung werden, dazu so und so viele Zufälle, die als Zufälle verstanden sein wollen. Und vielleicht finden wir ja dieses Jahr, wo das heitere Suchen in der freien Natur und im Kreis der Familie schmerzlich eingeschränkt ist, etwas, auf das wir zunächst gar nicht aus waren und das sich dann doch als wertvoll herausstellt für uns und unsere Zukunft.

„Eine schmerzliche Unterbrechung ist eingetreten“

Dekan Wilfried Braun, geschäftsführender Pfarrer der Gesamtkirchengemeinde Backnang. Foto: E. Layher