Eintauchen in die mentale Waldbadewanne

Waldbaden tut der Seele und dem Körper gut, das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Die Naturparkführerin Michaela Genthner hat sich im Herbst 2020 zur Kursleiterin für Waldbaden und Achtsamkeit ausbilden lassen. Nun lädt sie Interessierte ein, mit ihr in die Natur einzutauchen.

Eintauchen in die mentale Waldbadewanne

Bäume anfassen, an ihnen riechen: Es geht darum, den Wald mit allen Sinnen zu erleben.

Von Melanie Maier

RUDERSBERG. Der Wind rauscht durch die Baumkronen. Regentropfen prasseln auf das Blätterdach, ein Vogel zwitschert leise. Es riecht nach Moos, Laub und alten Ästen – typischer Waldgeruch, nur dass man den oft sogar dann nicht wahrnimmt, wenn man sich regelmäßig im Wald aufhält, etwa zum Joggen oder Mountainbikefahren. Selbst bei einem Waldspaziergang ist man nicht selten mehr mit dem beschäftigt, was im eigenen Kopf vorgeht, als mit dem, was um einen herum passiert. Man übersieht den Specht, der an den nahen Baumstamm hämmert, die Erdbeeren, die am Wegrand wachsen. Man nimmt weder wahr, wie die Zweige auf dem Waldboden bei jedem Schritt unter den Schuhen knacken, noch hört man das Rascheln der Blätter, wenn man mit der Jacke an ihnen entlangstreift.

Dabei sind es gerade diese Eindrücke, die uns in die Gegenwart zurückholen und uns guttun. Waldbaden – das Eintauchen in den Wald mit allen Sinnen – nutzt der Seele wie dem Körper. „Das ist wissenschaftlich nachgewiesen“, betont Michaela Genthner. Sie ist Naturcoach und Naturparkführerin im Schwäbisch-Fränkischen Wald. Im Herbst 2020 hat sie sich an der Deutschen Akademie für Waldbaden und Gesundheit zur Kursleiterin für Waldbaden und Achtsamkeit ausbilden lassen.

In Japan ist die Praxis schon seit den 1980er-Jahren bekannt

Eigentlich, sagt Michaela Genthner, sei das Waldbaden nichts Neues. Sie sitzt unter einer ausladenden Eiche am Waldrand von Rudersberg-Mannenberg, berichtet ihren Kursteilnehmerinnen von der Geschichte des Waldbadens und davon, wie es auf den Menschen wirkt. In Japan ist die Praxis schon seit den 1980er-Jahren bekannt, „es heißt dort Shinrin Yoku“, sagt Genthner. Waldbaden, führt sie aus, bedeute nicht, dass man mitten im Wald eine Badewanne aufstelle – „obwohl das sicher auch schön wäre“ –, sondern „dass man in der Atmosphäre des Waldes badet“. Wie das geht, will sie an diesem Vormittag vermitteln.

Startpunkt ihrer zweieinhalbstündigen Tour ist der Parkplatz neben dem Friedhof außerhalb von Mannenberg. Dort treffen sich Genthner und die fünf Frauen, die sie an diesem Vormittag in den Wald begleiten. Sie gehen vorbei an Mais-, Gersten- und Weizenfeldern, neben denen Schafgarbe, Mädesüß und Johanniskraut blühen.

Die Eiche am Waldrand ist der erste Punkt, an dem die Gruppe haltmacht. Jede der Frauen setzt sich auf ein Sitzkissen. Der Reihe nach stellen sie sich vor und sagen, was sie zum Waldbaden gebracht hat. Helga Winnewisser aus Heiningen etwa hat viele Sendungen zum Thema gesehen und in der BKZ davon gelesen. Der Wald sei ihr schon immer wichtig gewesen, berichtet die 71-Jährige, „ich bin mit der Natur aufgewachsen“. Ein Leben ohne ihren Garten kann sie sich nicht vorstellen.

Heike Kähny aus Auenwald – „da steckt das Wort Wald schon drin“ – hat sich für den Ausflug extra freigenommen, obwohl sie bis vor Kurzem noch nicht viel mit Umwelt und Natur am Hut hatte. „Seit drei Jahren bin ich süchtig nach dem Wald“, sagt sie. „Er ist für mich ein Kraftort – ich laufe durch den Wald und merke, wie mir das einfach guttut.“ Auch Christina Kefer, 52, aus Schorndorf sagt: „Wenn es mir nicht gut geht und ich in den Wald gehe, komme ich komplett anders zurück.“

Warum das so ist, dafür hat Michaela Genthner gleich mehrere Erklärungen. Zum einen beruhige schon die Farbe Grün, sagt sie. Japanische Forscher haben nachgewiesen, dass der Anblick des Waldes genügt, damit der Blutdruck sinkt, der Puls sich verlangsamt, die Konzentration des Stresshormons Kortisol abnimmt. Vor allem aber liege es an den Terpenen, den Duftstoffen, mit deren Hilfe Bäume untereinander kommunizieren. „Das sind auch die Aromen, die wir riechen“, erklärt die Naturparkführerin. Die Terpene sorgen dafür, dass der Körper mehr Killerzellen produziert – jene Abwehreinheiten unseres Immunsystems, die Krankheitserreger und Krebszellen bekämpfen. „Außerdem ist es sogar erwiesen, dass Menschen, die im Krankenhaus mit Blick aufs Grüne liegen, schneller genesen und weniger Medikamente brauchen“, sagt Michaela Genthner.

„Die Natur will nichts von uns,hier müssen wir nichts leisten“

Was ihrer Meinung nach auch dazu beiträgt, dass man sich im Wald so wohlfühlt: „Die Natur will nichts von uns, hier müssen wir nichts leisten.“ Jeder könne einfach so sein, wie er ist. Daher würden gerade auch Menschen mit Burn-out oder Depressionen stark vom Waldbaden profitieren. „Ehrlich gesagt“, sagt sie, „kenne ich niemanden, auf den es sich nicht positiv auswirkt.“

Nach einer Reihe von Atemübungen zur Lockerung und zum Ankommen im Jetzt gehen die Frauen tiefer in den Wald hinein. „Wer möchte, kann hier einmal die Schuhe ausziehen und ein Stückle barfuß laufen“, sagt Genthner an einer Waldlichtung. Sie zieht als Erste die Schuhe aus, geht durch das knöchelhohe Gras voran. Immer wieder bleiben die Frauen stehen, um in den Wald hineinzulauschen, Bäume anzufassen und an ihnen zu riechen. „Da sind Pilze!“, ruft Heike Kähny fasziniert und fügt hinzu: „Wenn ich durch den Wald gehe, dann bin ich wie ein kleines Kind. Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Fliegenpilz gesehen. Ich dachte immer, die gibt’s nur im Märchen.“

An der folgenden Station dürfen die Frauen nacheinander in einer Hängematte liegen und sich mit geschlossenen Augen komplett entspannen, während Michaela Genthner abwechselnd auf der Flöte, Leier und mit Klangschalen Töne erklingen lässt. Sie sei zu 100 Prozent bei sich selbst angekommen, sagt Helga Winnewisser am Ende des Rundgangs. „Ich bin mit Kopfweh hergekommen, das ist jetzt komplett weg“, sagt Christina Kefer.

Michaela Genthner freut sich über die positiven Rückmeldungen. Überrascht ist sie davon nicht: „Was da an Heilung im Wald geschieht, kann man sich gar nicht vorstellen.“ Ihr Wissen um die Kräfte des Waldes möchte sie weitergeben und dazu ermutigen, öfter in den Wald zu gehen. „Der Wald ist da, ein Spaziergang kostet nichts“, betont sie. Die einzige Herausforderung sei, unterwegs bei sich zu bleiben.

Eintauchen in die mentale Waldbadewanne

Barfuß führt Michaela Genthner (Bild unten, vorn) ein Stück durch den Wald. Fotos: M. Maier