Die Pflegekräfte haben während der Pandemie oft am Anschlag gearbeitet. Nun gibt es auch noch Klagen. Foto: A. Palmizi
Von Matthias Nothstein
WINNENDEN. In den Krankenhäusern ist es in den vergangenen Monaten aufgrund der Pandemie zu Extremsituationen gekommen. Diese haben sich offensichtlich in Einzelfällen auch negativ auf die Qualität der Pflege ausgewirkt, auch in den Rems-Murr-Kliniken. Klagen von Angehörigen – und zwar mehr als das übliche Maß – erreichen zuletzt die Redaktion. So schreibt zum Beispiel Barbara Weyman, die Tochter eines 93-Jährigen, dass ihr Vater nach einem Aufenthalt im Rems-Murr-Klinikum Winnenden eine Patientenverfügung erstellt habe, die ihm garantiere, „dass er nie, nein niemals mehr in das Winnender Krankenhaus gebracht wird“. In der Verfügung aufgelistet sind hingegen zwei Wunschkrankenhäuser in Stuttgart. Zudem hat der Senior verfügt, dass er die Kosten für den längeren Krankentransport gerne selber bezahlen werde. In einem Schreiben an die Redaktion fragt nun die Tochter: „Wie weit muss es kommen, dass jemand auf so eine Idee kommt?“
Ein Schwerpunkt der nun bekannt gewordenen Klagen ist, dass die Angehörigen trotz mehrfacher Bitte nicht von einem Arzt zurückgerufen wurden. Und dies vor allem zu jener Zeit, als die Patienten nicht besucht werden durften. Weyman berichtet, dass sie nach unzähligen Versuchen erst mit einer Assistenzärztin sprechen durfte, als sie vehement auf ihr Auskunftsrecht pochte und mit rechtlichen Schritten drohte. Da die Ärztin nur nach Rücksprache mit dem Oberarzt eine Aussage machen durfte, bat Weyman diese „wiederholt und freundlich“ um Rückruf. Ein solcher ist nie erfolgt. „Ich bin am Verzweifeln, weil ich den alten, hilflos ausgelieferten Mann nicht besuchen darf.“
Das Gebiss bleibt fünf Tage lang im Waschbeutel im Koffer.
In einem anderen Fall versuchen die Angehörigen einer 94-Jährigen Informationen zu erhalten. Die Seniorin wird an einem Freitag eingeliefert. Samstags, sonntags, montags haken die Töchter nach und wollen einen Arzt sprechen, nichts passiert. Erst am Dienstag gibt es einen Rückruf. Die Begründung für das Ausbleiben des Telefonats: Es habe keine Telefonnummer vorgelegen. Dies stimme nicht, korrigiert eine Tochter, vielmehr seinen die Nummern beider Kinder nicht nur auf den Einweisungspapieren gestanden, sondern sie seien zusätzlich täglich hinterlassen worden. Eine der Töchter fragt sich nun: „Ist es Schlamperei, Bequemlichkeit oder Unfähigkeit?“
Mehrfach gab es Klagen, dass die Pflegekräfte die Patienten nicht ausreichend versorgt ober betreut hätten. Und das zu Zeiten, in denen die Angehörigen wegen des Besuchsverbots keine Handreichungen übernehmen konnten.
Die Klinik- und Landkreisleitung beziehungsweise die Patientenfürsprecher haben inzwischen beispielsweise auf Weymans Klage reagiert. So schreiben die Rems-Murr-Kliniken: „Bereits vor Beginn der Coronapandemie haben unsere Pflegekräfte eine große Verantwortung für unsere Patienten übernommen, für die sie nicht nur während ihrer Ausbildung, sondern auch durch regelmäßige Weiterbildungen bei uns im Haus geschult werden. Infolge des notwendigen Besuchsstopps beziehungsweise der Besuchseinschränkungen haben unsere Fachkräfte viel Zeit für unsere Patienten investiert, um die Abwesenheit von Angehörigen zu kompensieren. Trotz der sehr hohen zusätzlichen Belastung durch die Pandemie versuchen unsere Mitarbeitenden dabei bestmöglich auf jeden einzelnen Patienten einzugehen.“
Klingt gut. Im Fall der 94-Jährigen habe es sich jedoch so verhalten, dass eine Tochter eine halbe Stunde nach der Einweisung noch einen Koffer mit persönlichen Sachen vorbeibrachte und konkret auf das Hörgerät und das Gebiss der Seniorin im Koffer hinwies. Umsonst. Erst als eine Bettnachbarin der Patientin fünf Tage später das Gebiss aus dem Waschbeutel holte, konnte die Patientin wieder beißen, in den Tagen zuvor erhielt sie nur Brei. Ähnliches beschreibt Weyman, ihr Vater habe am Telefon geklagt: „Die lassen mich verhungern.“ Als er entlassen wird, bringt ihn ein Krankentransport laut Tochter „hungrig, ungewaschen und ungekämmt im halb zugeknöpften Schlafanzug und ohne Strümpfe“.
Eine 94-Jährige wird um 22 Uhr vom Fahrdienst nach Hause gebracht.
Noch schlimmer trifft es die 94-Jährige, die wegen eines Harnwegsinfekts behandelt wurde. Sie wird laut ihrer Tochter „um 22 Uhr vom Fahrdienst zu Hause abgeliefert, ohne Einlage, nur mit einer Schlafanzughose, die schon feucht war“. Im Arm hatte sie noch die Infusionsnadel, von der die Tochter vermutet, dass es sich um jene handelt, die der Hausarzt in der Woche zuvor gesetzt hatte.
Die Klinikleitung verteidigt sich: Krankentransporte würden von externen Dienstleistern durchgeführt. Es komme dabei in Einzelfällen vor, dass Transporte vormittags bestellt und die Patienten zur Abholung vorbereitet werden, diese aber erst am Abend abgeholt würden. „Dabei kann es im ungünstigsten Fall vorkommen, dass der Patient vom externen Krankentransport ohne Beisein einer Pflegekraft abgeholt wird.“ Die Dienstleister würden zudem selbst entscheiden, wann sie welchen Transport durchführen. Landrat Richard Sigel ergänzt: „Das Landratsamt, zuständig für die Genehmigung von Krankentransportwagen, geht diesen auffälligen Einzelfällen nach und spricht bei Unstimmigkeiten die entsprechenden Unternehmen an.“
Das Klinikum geht auf die angeprangerten Fälle nicht näher ein. In der Antwort auf einen von uns geschickten Fragenkatalog heißt es: „Dem von Ihnen angesprochenen Fall, der auch dem Landrat vorliegt, wird derzeit nachgegangen. Sollten hier Versäumnisse stattgefunden haben, so werden wir selbstverständlich mit den Betroffenen sprechen, unser Bedauern ausdrücken und den Ursachen entgegenwirken.“ Zu den anderen Fällen ließe sich vonseiten des Klinikums keine Aussage treffen, „da wir diese nicht zuordnen können oder der Fall dem Beschwerdemanagement noch nicht vorliegt. Darüber hinaus unterliegen die Informationen sowohl dem Schutz der persönlichen Daten als auch der ärztlichen Schweigepflicht.“
Trotz der aktuellen Entspannung der Pandemie ist laut Klinikpressesprecher Christoph Schmale „die physische und psychische Belastung für Patienten und auch für unsere Mitarbeitenden weiterhin sehr hoch.“ So sei die Intensivstation weiterhin ausgelastet. „Während der Coronawellen war jeder Einzelne einer kontinuierlichen Extrembelastung ausgesetzt, die sich erst langsam entspannt. Wir bitten daher um Verständnis, wenn Mitarbeiter in Einzelfällen nicht so handeln, wie sie es zu Nicht-Covid-Zeiten würden.“ Und die zusätzlich eingestellten Kräfte müssten erst noch eingearbeitet werden.
Von Matthias Nothstein
Die Würde des Menschen ist unantastbar. So lautet der erste Artikel des Grundgesetzes. Aber wie entwürdigend sind die geschilderten Missstände? Zwar scheint es sich nur um Einzelfälle zu handeln. Aber gerade deshalb gehört diesen mit aller Schärfe nachgegangen. Und es gehören Konsequenzen gezogen, zum Schutz all jener Klinikmitarbeiter, die fleißig, gewissenhaft und engagiert ihre Arbeiten und Pflichten zum Wohle der Patienten erledigen.
Eine andere Sache geht aber überhaupt nicht. Dass nämlich die Krankentransportdienstleister bestimmen, wann sie die angeforderten Fahrten erledigen. Sie sind Dienstleister, also sollen sie auch als solche funktionieren. Und die Verantwortlichen müssen dafür sorgen, dass die Fahrten so erledigt werden, dass die
Patienten würdevoll behandelt werden.
m.nothstein@bkz.de
Das Beschwerdemanagement der Rems-Murr-Kliniken hat für den Bereich Pflege in den vergangenen Wochen eine leicht ansteigende Zahl an Beschwerden im Jahresverlauf erhalten. Bis Ende Mai gingen insgesamt 95 Meldungen ein. Diese Zahl liegt unter dem Niveau von 2020 (113 Meldungen) und auch unter dem Niveau von 2019 (205 Meldungen). Während der jeweiligen Lockdown-Zeiten seien sogar weniger Beschwerden eingegangen.
Landrat Richard Sigel wertet es als Erfolg, „dass die Anzahl der Beschwerden trotz der Pandemie nicht gestiegen ist“. Klinikpressesprecher Christoph Schmale bestätigt dies: „In der Gesamtbetrachtung der Beschwerdeanzahl (unabhängig vom Beschwerdegrund) liegen wir auf gleichem Niveau wie vor der Coronapandemie. Anhand dieser Zahlen können wir demnach nicht von einer großen Häufung sprechen.“
Als Vorsitzender des Aufsichtsrats der Rems-Murr-Klinken verweist Sigel darauf, dass eine gute Gesundheitsversorgung auf gutes Personal angewiesen ist: „Wir haben daher als Landkreis trotz der Coronakrise in unser Klinikpersonal investiert. Wir bleiben der Linie treu: Es wird nicht auf Kosten des Personals gespart. Dies zeigen 110 zusätzliche Stellen im Bereich der Pflege.“
Der Rems-Murr-Kreis habe nicht nur die Personalaufstockung genehmigt, sondern laut Sigel zusätzlich „die Pflegeprämie von Bund und Land als Dankeschön an unsere Mitarbeitenden aufgestockt“. Und Landrat Sigel erinnerte ferner daran, dass der Kreis einen zweistelligen Millionenbetrag in rund 100 neue Mitarbeiterapartments, die derzeit in Schorndorf und Winnenden für das Klinikpersonal entstehen, investiert.
Auf der anderen Seite bittet er aber auch um Verständnis bei der Bevölkerung bei der Rückkehr zum „normalen Klinikalltag“. Die Extremsituationen der vergangenen Monate seinen gut überstanden, aber die große Mehrbelastung für die Pflegekräfte müsste noch verdaut werden. Auch koste die Rückkehr in den Normalbetrieb weitere Energie.