Etwas Industriecharme und ganz viel Grün

Den städtebaulichen Wettbewerb für das Backnanger IBA-Gelände gewinnt ein kleines Büro aus Berlin. Die Planer wollen an die industrielle Vergangenheit anknüpfen und die Murr wieder in den Mittelpunkt rücken.

Etwas Industriecharme und ganz viel Grün

Die Architekten des Siegerentwurfs haben das 17 Hektar große IBA-Gelände in vier verschiedene Zonen aufgeteilt. Plan: Teleinternetcafe/Treibhaus

Von Kornelius Fritz

BACKNANG. Die Teilnehmer kamen aus London und New York, aus Vietnam und Kolumbien, doch der Sieg blieb am Ende in Deutschland. Das Büro „Teleinternetcafe Architektur und Urbanismus“ aus Berlin, das sich zusammen mit den Landschaftsplanern von „Treibhaus“ aus Hamburg beworben hatte, hat den städtebaulichen Wettbewerb für das IBA-Projekt „Quartier Backnang-West“ für sich entschieden. Beide Büros sind mit neun beziehungsweise zwölf Mitarbeitern relativ klein, haben aber schon mehrere Wettbewerbe gemeinsam gewonnen, unter anderem für Städtebauprojekte in Berlin und München. Beim Wettbewerb für das IBA-Projekt setzte sich die Arbeitsgemeinschaft in der Endausscheidung gegen 21 Konkurrenten durch. Am Freitag stellten die Planer ihr Konzept öffentlich vor, wegen der Coronapandemie allerdings nur online.

Ziel sei es gewesen, ein „Quartier für alle“ zu schaffen, erläuterte Marius Gantert von Teleinternetcafe. Deshalb habe man versucht, unterschiedlichste Nutzungen und Raumangebote auf dem Areal unterzubringen und so einen lebendigen Stadtteil mit einer gesunden sozialen Mischung zu schaffen. Wo immer es möglich ist, wollen die Architekten die alten Industriehallen in ihre neuen Pläne integrieren. Teilweise sollen diese als „Sockel“ dienen, auf die weitere Wohngeschosse gesetzt werden.

Die Architekten haben das insgesamt 17 Hektar große Gelände in vier verschiedene Zonen aufgeteilt, die jeweils einen ganz eigenen Charakter bekommen sollen. Auf dem ehemaligen Kaelble-Areal, das an die Innenstadt angrenzt, soll ein „CityCampus“ entstehen. Man stelle sich hier eine Mischung aus Forschung, Entwicklung und urbanem Wohnen vor, erklärt Thomas Neher von Teleinternetcafe. Es könnten sich dort zum Beispiel Start-ups und Firmen aus der Kreativbranche ansiedeln. Auch für Kultur- und Freizeiteinrichtungen wäre Platz. Prägende Gebäude wie das Technikforum oder die alte Lederfabrik Hodum sollen stehen bleiben. „So wollen wir den Charakter des Areals auch künftig erhalten“, erklärte Neher.

Den Bereich auf der anderen Seite der Murr haben die Planer „Stadtwerk“ getauft, in Anlehnung an die Stadtwerke Backnang, die dort ihren Sitz haben. Dort wollen die Planer nachverdichten und weitere Gewerbeflächen schaffen, etwa für Firmen aus dem Bereich nachhaltige Energieversorgung. Entlang der Murr sollen aber auch Wohngebäude entstehen, Neher denkt an Mehrgenerationenhäuser: „Es könnten zum Beispiel Azubi-WGs und Senioren-WGs entstehen, die sich gegenseitig unterstützen.“

In 15 Minuten zu Fuß alle Besorgungen erledigen.

Das Gebiet der ehemaligen Lederfabriken Räuchle und Kaess wird in dem Entwurf als „Wohnfabrik“ tituliert. Die alten Fabrikhallen sollen erhalten und neu genutzt werden. „Hier könnten wir uns auch sehr gut ein genossenschaftliches Modell vorstellen“, erklärt Neher. Das würde zum Beispiel einen Wohnungstausch ermöglichen: Paare, deren Kinder aus dem Haus sind, könnten ihre große Wohnung einer jungen Familie überlassen und trotzdem in ihrer gewohnten Umgebung bleiben.

Eine wichtige Rolle spielt in dem Siegerentwurf die Murr, die bisher überwiegend versteckt hinter Mauern durch das Gebiet fließt. „Sie soll künftig als erlebbarer Landschaftsraum alle Teilquartiere verbinden“, erklärt Gerko Schröder von Treibhaus. Der Landschaftsarchitekt will die Murr nicht nur renaturieren, sondern an ihren Ufern auch parkartige Grünflächen schaffen. An der Flussbiegung beim Juze, wo sich heute noch ein asphaltierter Parkplatz befindet, soll eine grüne Parkaue entstehen. Insgesamt sind in den Plänen mehr als zwei Hektar des IBA-Areals als Grünflächen eingezeichnet.

Die Planer bezeichnen den neuen Stadtteil als „15-Minuten-Quartier“, das heißt, die Bewohner sollen alle wichtigen Alltagsbesorgungen innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß erledigen können. Die Fabrikstraße soll künftig für Autos tabu sein und zu einem großzügigen Fahrradboulevard werden. Der motorisierte Verkehr soll stattdessen über eine neue Brücke im Bereich der Schlachthofstraße fließen. Mit einer neuen Buslinie kämen dann auch die Bewohner aus dem hinteren Teil Gebiets schnell zum Bahnhof oder in die Innenstadt.

In jedem der drei Teilquartiere sieht das Konzept auch ein höheres Gebäude vor, als „städtebauliche Orientierungsmarke“, wie Marius Gantert erklärte. 15 Stockwerke beziehungsweise knapp 50 Meter hoch sollen diese Häuser sein. Angesichts der bekannten Diskussion um die Hochhauspläne von Riva-Chef Hermann Püttmer beeilte sich die Juryvorsitzende Jórrun Ragnarsdóttir aber hinzuzufügen, dass sich der Entwurf auch ohne diese Hochpunkte umsetzen lasse.

Kommentar
Keine Effekthascherei

Von Kornelius Fritz

Die Messlatte lag hoch. Zukunftsweisende Architektur und völlig neue Ideen und Konzepte will Intendant Andreas Hofer bei der Internationalen Bauausstellung in sechs Jahren präsentieren. Vielleicht sogar Revolutionäres wie vor 100 Jahren, als 17 Architekten mit der Stuttgarter Weißenhofsiedlung der modernen Architektur den Weg bereiteten.

Wer deshalb erwartet hatte, dass beim Wettbewerb für das Quartier Backnang-West ein Entwurf mit futuristischer Architektur und abgedrehten Ideen das Rennen macht, der wurde enttäuscht. Das, was am Freitag präsentiert wurde, wirkt auf den ersten Blick nicht sensationell. Aber gute Architektur braucht keine Effekthascherei. Viel wichtiger ist, dass sich das neue Quartier stimmig in seine Umgebung einfügt, damit hier keine Stadt in der Stadt entsteht.

Der Rahmenplan, der von der Jury ausgewählt wurde, wird diesem Anspruch gerecht. Die Planer aus Berlin und Hamburg wollen nicht einfach ein neues Viertel aus dem Boden stampfen, sondern sie haben einen Entwurf vorgelegt, der nach Backnang passt und das industrielle Erbe der Stadt aufgreift. Ob sich ihre Ideen alle umsetzen lassen, bleibt offen. Ob im Backnanger Westen wirklich Bahnbrechendes entstehen wird, ebenso. Wenn am Ende „nur“ etwas Gutes dabei herauskäme, wäre es aber auch nicht schlimm.

k.fritz@bkz.de