Der Riesenabendsegler, Europas größter Fledermausart, frisst nicht nur kleine Vögel. Sie jagen und fangen sie mehr als einen Kilometer über dem Boden und verzehren sie, ohne zu landen.
Auf frischer Tat ertappt: Europas größte Fledermaus jagt und verzehrt Singvögel in der Luft
Von Markus Brauer
Jedes Jahr migrieren Milliarden von Singvögeln zwischen ihren Brutgebieten und Überwinterungsgebieten. Viele Arten fliegen in großer Höhe und während der Nacht, um tagaktiven Raubtieren auszuweichen. Dies macht die Reise jedoch nicht völlig risikofrei, denn nachts jagen Fledermäuse.
Jagdtechnik des Riesenabendseglers
Eine neue Studie – veröffentlicht im Fachmagazin „Science“ – unter der Leitung von Laura Stidsholt von der Universität Aarhus sowie Carlos Ibáñez und Elena Tena von der Biologischen Station Doñana zeigt, dass einige Fledermäuse hoch in den Nachthimmel fliegen, um Vögel aufzuspüren und zu jagen.
Das Team stattete Riesenabendsegler (Nyctalus lasiopterus) mit winzigen „Rucksäcken” mit Biologgern aus, welche die Position, Beschleunigung, Höhe und die akustischen Signale der Fledermäuse und ihrer Umgebung aufzeichneten und auf diese Weise ihre Jagdtechnik offenbarten.
Eine Jagd, rekonstruiert anhand von Biologger-Daten
Unter den mehr als 600 erfassten Jagdflügen von 14 besenderten Riesenabendseglern, die das Team auswertete, stachen zwei hervor:
Vogel wird erst getötet und dann die Flügel abgebissen
In Kombination mit Röntgen- und DNA-Analysen der Flügel von Singvögeln, die unter den Jagdgebieten der Fledermäuse gefunden wurden, zeichnen die Daten ein klares Bild von der Jagd: Die Riesenabendsegler töten die Vögel mit einem kräftigen Biss und beißen ihnen dann die Flügel ab – wahrscheinlich, um Gewicht und Luftwiderstand zu reduzieren.
Die Forscher nehmen an, dass die Fledermäuse dann die Membran zwischen ihren Hinterbeinen wie einen Beutel nach vorne stülpen und den Vogel während des Fluges fressen.
„Wir wissen, dass Singvögel tagsüber wilde Ausweichmanöver wie Loopings und Spiralen ausführen, um Beutegreifern wie Falken zu entkommen. Nachts wenden sie dieselben Taktiken gegen Fledermäuse an.
„Es ist faszinierend, dass Fledermäuse sie nicht nur fangen, sondern auch töten und fressen können, während sie fliegen. Ein solcher Vogel wiegt etwa halb so viel wie die Fledermaus selbst. Das wäre so, als würde ich beim Joggen ein 35 Kilogramm schweres Tier fangen und essen“, erklärt Laura Stidsholt, Assistenzprofessorin in der Abteilung für Biologie der Universität Aarhus.
Seit einigen Jahrzehnten ist bekannt, dass mindestens drei große Fledermausarten sich von kleinen Vögeln ernähren, die sie in der Luft jagen und fangen. Ein Großteil dieses Wissens stammt aus der Arbeit des spanischen Fledermausforschers Carlos Ibáñez und seiner Kollegen an der Biologischen Station Doñana in Spanien.
Gewagte Stunts in luftigen Höhen
Vor fast 25 Jahren entdeckte Ibáñez Federn im Kot von Riesenabendseglern und sammelte seitdem immer mehr Beweise dafür, dass diese Fledermausart Singvögel fangen und fressen. Jahrelang versuchten die Forscher herauszufinden, wie die Fledermäuse diesen gewagten Stunt in luftigen Höhen bewerkstelligen.
„Wir wussten, dass der Riesenabendsegler Insekten im Flug fängt und frisst, also nahmen wir an, dass er das auch mit Vögeln tut. Aber wir mussten es beweisen“, erzählt Ibáñez. Die Hypothese stieß in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zunächst auf Skepsis, da einige Vögel fast halb so schwer sind wie die Fledermaus selbst und somit die Flugfähigkeit der Fledermäuse beeinträchtigen könnten.
Da Fledermäuse nachts jagen, ist es unmöglich, die Jagd zu filmen. Stattdessen versuchten Forscher es mit Überwachungskameras an Schlafplätzen, Militärradar, Ultraschallrekordern an Heißluftballons und GPS-Trackern. Die größte Herausforderung bestand darin, Geräte zu finden, die leicht genug für die Fledermäuse waren. Solche leichten Mini-Biologger wurden an der Universität Aarhus entwickelt.
„Mitgefühl für die Beute, aber es ist Teil der Natur“
Für Elena Tena, ebenfalls eine der Hauptautorinnen der Studie, war es nach so vielen Jahren der Arbeit ein intensiver Moment, die Tonaufnahme der Stressrufe des Vogels zu hören, gefolgt von plötzlicher Stille und langen Kaugeräuschen:
„Es weckt zwar Mitgefühl für die Beute, aber es ist Teil der Natur. Wir wussten, dass wir etwas Außergewöhnliches dokumentiert hatten. Für das Team bestätigte es, wonach wir so lange gesucht hatten. Ich musste es mir mehrmals anhören, um vollständig zu begreifen, was wir aufgenommen hatten.“
Keine Bedrohung für Singvögel-Bestände
Glücklicherweise gibt es kaum Grund zur Sorge, dass Fledermäuse die Bestände von Singvögeln bedrohen könnten. Der Riesenabendsegler ist äußerst selten und in vielen Regionen vom Aussterben bedroht, da seine Lebensräume in naturnahen Wäldern verschwinden
Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW, sagt: „Wir müssen dafür sorgen, dass wir sowohl Zugvögel als auch ihre Fressfeinde schützen. Für die Riesenabendsegler bedeutet dies insbesondere den Erhalt von natürlichen Wäldern mit alten Bäumen, die reich an Höhlen sind.“