Fake-News-Affäre beim „Spiegel“

Der vielfach preisgekrönte Reporter Claas Relotius, 33, hat schwere Fälschungen in seinen Geschichten eingestanden

Von Thomas Klingenmaier

Journalismus - Claas Relotius, 33 Jahre alt, ist ein vielfach preisgekrönter Reporter. Nun aber steht sein ganzes Schaffen in Frage. Er hat massive Fälschungen zugegeben.

Hamburg Es ist ein zerknirschter, wütender, bohrender Text, ein Dokument der Erschütterung und ein Musterbeispiel des Aufklärungswillens, mit dem sich Ullrich Fichtner, Chefredakteur des Hamburger Nachrichtenmagazins „Spiegel“, auf „Spiegel online“ am Mittwoch dieser Woche an die Öffentlichkeit gewandt hat. Der Überschrift des Artikels könnte man jedoch vorwerfen, sie untertreibe den Sachverhalt ein wenig: „,Spiegel’ legt Betrugsfall im eigenen Haus offen“.

Dann aber folgt es Schlag auf Schlag. Claas Relotius, 33 Jahre alt, seit 2007 als Reporter für das Magazin tätig, seit eineinhalb Jahren Redakteur, vor wenigen Wochen erst von der Jury des Deutschen Reporterpreises als Autor der besten Reportage des Jahres ausgezeichnet, ist als Fälscher entlarvt. Schwere journalistische Grenzüberschreitungen hat er im Gespräch mit Vorgesetzten zugegeben. Nun herrscht der Zweifel, ob schon alles enthüllt ist oder ob Relotius weitere Verfehlungen noch verschweigt.

Das Gesicherte fasst Fichtner so zusammen: „So lässt sich sagen, dass Claas Relotius, 33 Jahre alt, einer der auffälligsten Schreiber des ,Spiegels’, ein bereits vielfach preisgekrönter Autor, ein journalistisches Idol seiner Generation, kein Reporter ist, sondern dass er schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt. Wahrheit und Lüge gehen in seinen Texten durcheinander, denn manche Geschichten sind nach seinen eigenen Angaben sauber recherchiert und fake-frei, andere aber komplett erfunden, und wieder andere wenigstens aufgehübscht mit frisierten Zitaten und sonstiger Tatsachenfantasie.“

Relotius war kein wirrer Fabulierer. Was er schilderte, konnte man sich vorstellen. Das macht seine Lügen so zersetzend, so vertrauenserschütternd. In jeder Nachrichtenredaktion der Republik, die diesen Namen verdient, fragt man sich nun: Hätte man diese Fälschungen erkennen können? Ließen sich solche Manipulationen künftig ausschließen? Und wenn nicht, was bedeutet das für jenen kritischen Journalismus, der im Zeitalter groß angelegter Desinformationskampagnen von interessierter Seite mit dem Vorwurf der Fake-News bombardiert wird?

Zum Verhängnis ist Relotius die Geschichte über eine Bürgerwehr im US-Bundesstaat Arizona geworden. Die Pressefrau der Wehr stößt auf die Reportage „Jaegers Welt“ und fragt konsterniert, wie Relotius eine Vor-Ort-Geschichte schreiben könne, wo er doch nie bei ihnen gewesen sei. Ein Kollege des nun in Erklärungsnot Befindlichen, Juan Moreno, beginnt zu recherchieren. Leicht wird das nicht, der Sieg der Wahrheit ist nicht ausgemacht, wie Fichtner bekennt: „Drei, vier Wochen lang geht Moreno durch die Hölle, weil Kolleginnen und Vorgesetzte in Hamburg seine Vorwürfe anfangs gar nicht glauben können.“

Nach eigener Auskunft lässt der „Spiegel“ die Artikel von Relotius bis zur weitgehenden Klärung der Vorwürfe unverändert, aber mit einem warnenden Hinweis versehen im online zugänglichen Archiv stehen – „auch um Nachforschungen zu ermöglichen“. Man ruft nun alle Personen, die zur Klärung der Faktentreue von Relotius’ Geschichten beitragen können, zur Mithilfe auf. Das aber kann nur der Anfang der Bemühung sein, die Schäden dieses journalistischen Bebens zu beseitigen.