Die EU-Mindestlohnrichtlinie hat Bestand. Die Spitzenverbände von Arbeitgebern und Gewerkschaften zeigen sich mit dem Urteil des europäischen Gerichtshofs nur teilweise einverstanden.
Im deutschen Niedriglohnsektor müssen Millionen Beschäftigte sozusagen kleine Brötchen backen.
Von Matthias Schiermeyer
Mit Enttäuschung und Erleichterung, sehr zwiespältig in jedem Fall, haben jeweils Arbeitgeber und Gewerkschaften auf das differenzierte Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Anwendung der EU-Mindestlohnrichtlinie reagiert.
Der EuGH hatte die Richtlinie größtenteils anerkannt. Zugleich wurden jedoch die Kriterien, die von den EU-Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Mindestlöhne zwingend zu berücksichtigen seien, für nichtig erklärt: Die Lebenshaltungskosten, das Niveau und Wachstum der Löhne sowie die nationale Produktivitätsentwicklung für die Bestimmung des Mindestlohns heranzuziehen, wäre ein „unmittelbarer Eingriff in die Festsetzung des Arbeitsentgelts“ und damit unzulässig, befand der Gerichtshof.
„Übergriffiges Urteil“ gefällt
Die Sozialpartner in Deutschland sehen sich im Kern bestätigt – die jeweils erhoffte klare Entscheidung blieb aber aus. Der aufseiten der Arbeitgebervereinigung BDA federführende Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter kritisiert das Urteil als „übergriffig“, weil es weite Teile der Richtlinie bekräftigt. „Mit der Fortsetzung dieser Politik wird Europa keine Erfolgsgeschichte“, rügt er. Mindestlöhne und Tarifpartnerschaft gehörten allein in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die teilweise Annullierung der Richtlinie zeige aber auch: „Das Urteil darf nicht als Freibrief für weitere Eingriffe der EU in die Tarifautonomie und Sozialpolitik missverstanden werden.“ In jedem Fall könne das deutsche Mindestlohngesetz unverändert bestehen bleiben, versichert die BDA – die Sozialpartner dürften weiter eigenständig über die Mindestlohnhöhe entscheiden.
Für den Gewerkschaftsbund (DGB) nennt es Vorstandsmitglied Stefan Körzell „bedauerlich, dass der EuGH einheitliche europäische Kriterien für angemessene Mindestlöhne gekippt hat“. Dies entbinde die Mitgliedsstaaten aber nicht, eigene nationale Kriterien festzulegen. Bestätigt habe der Gerichtshof immerhin, dass die EU-Staaten einen „Referenzwert“ für angemessene gesetzliche Mindestlöhne ansetzen müssen. Dies trifft auch auf die deutsche Regelung zu, wonach der Mindestlohn 60 Prozent des nationalen Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten betragen soll. Dies war eine Grundlage für die jüngsten Anhebungen durch die Mindestlohnkommission, die das Bundeskabinett jüngst abgesegnet hat.
Die wissenschaftlichen Experten der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bekräftigen: Die Vorschrift, dass die Mitgliedsländer einen Referenzwert zur Beurteilung des Mindestlohns anwenden müssen – wie die 60 Prozent des mittleren Stundenlohns in Deutschland – habe Bestand. Der Wert sollte daher jetzt im Mindestlohngesetz verankert werden, fordern sie.
Aktionsplan zur Tarifbindung nötig
Infolge ihrer Ernüchterung, dass der EuGH die Gewerkschaftserwartungen nicht gänzlich erfüllt hat, unterschreichen der DGB und Verdi noch einen weiteren Teil des Urteils: Demnach sind die EU-Mitgliedsstaaten nunmehr verpflichtet, für eine höhere Tarifbindung zu sorgen, wenn diese unter 80 Prozent der Beschäftigten liegt. Somit muss Deutschland nun einen Aktionsplan zur Steigerung der Tarifbindung vorlegen, weil hier weniger als 50 Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst werden.
Das Bundesarbeitsministerium will diesen Plan offenbar bis Ende des Jahres umsetzen. Um die Tarifbindung in Deutschland entscheidend zu verbessern, pocht Verdi-Vize Andrea Kocsis auf eine Einführung des Bundestariftreuegesetzes ohne Einschränkungen, auf mehr allgemein verbindliche Tarifverträge und auf die Abschaffung sogenannter OT-Mitgliedschaften („ohne Tarif“) in den Arbeitgeberverbänden.