Wiederkehrende Bleivergiftungen könnten den Niedergang der Neandertaler begünstigt haben. Und sie brachten dem Homo sapiens vielleicht den entscheidenden Überlebensvorteil.
Auch wenn er bärenstark war, ist der Neandertaler ausgestorben. Welche Rolle spilte dabei das giftige Schwermetall Blei?
Von Markus Brauer
Blei ist ein hochgiftiges Schwermetall und Luftschadstoff. Atmen wir die Substanz ein, gelangt sie über die Lunge in das Blut. Bei Erwachsenen führt eine hohe Bleibelastung zu einer verminderten Immunantwort, Unfruchtbarkeit und Anämie (eine Erkrankung, bei der die Zahl der roten Blutkörperchen oder der Hämoglobinspiegel niedrig ist). Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Gedächtnisverlust können eine Folge sein.
Blei ist für seine schleichende Giftwirkung berüchtigt: Schon eine geringe Dosis kann – vor allem in der Kindheit – die Hirnentwicklung stören und Nervenschäden verursachen sowie die Intelligenz verringern und psychomotorische Störungen auslösen.
So könnte die erhöhte Belastung durch verbleites Benzin in den 1960er bis 1980er Jahren den IQ einer ganzen Generation um mehrere Punkte verringert haben.
Verhängnissvolle Rolle von Blei in der Geschichte
Auch in der Antike und im Mittelalter verursachten Bleirohre und Bleiglasuren von Trinkgefäßen vielerorts schleichende Vergiftungen. So haben Untersuchungen an Sedimentkernen vom Meeresboden und aus dem küstennahen Umland der Ägäis gezeigt, dass die Umwelt bereits früh in der Antike durch den Menschen mit Blei kontaminiert wurden.
„Gängiger Annahme nach ist die Bleibelastung ein modernes Phänomen, das erst durch menschliche Aktivitäten wie den Bergbau und die Bleigewinnung entstanden ist“, schreiben Renaud Joannes-Boyau von der Southern Cross University in Australien in Lismore und seine Kollegen im Fachjournal „Science Advances“.
Bleibelastung schon bei unseren frühen Vorfahren
Um diese These zu überprüfen, haben Boyau und sein Team 51 fossile Hominiden-Zähne aus den letzten rund zwei Millionen Jahren auf eine Bleibelastung hin untersucht. Die Zähne stammten von Menschenaffen, Vormenschen wie Paranthropus und Australopithecus, vom Neandertaler und vom Homo sapiens aus Afrika, Asien und Europa.
Aus modernen Untersuchungen ist bekannt, dass sich Blei dauerhaft in den Schichten des Zahnschmelzes einlagert, wenn Kinder während des Zahnwachstums erhöhten Bleibelastungen ausgesetzt sind.
„Wir haben eindeutige Zeichen für eine erhöhte Bleibelastung in 73 Prozent der Proben gefunden“, berichtet das Team. Selbst Zähne aus der Zeit vor mehr als eine Million Jahren zeigten bleihaltige „Jahresringe“, die wiederholte Phasen erhöhter Belastung widerspiegelten.
Die Bleigehalte waren dabei ähnlich hoch wie die in Zähnen von US-Kindern, die in der Ära des verbleiten Benzins geboren wurden, wie Vergleichsanalysen ergaben.
Woher kam das Blei?
Diese Resultate belegen, dass schon unsere frühen Vorfahren immer wieder erhöhten Belastungen durch giftiges Blei ausgesetzt waren. Bleivergiftungen sind demnach kein Phänomen der Neuzeit, sondern prägten schon das Leben der Vor- und Frühmenschen und auch der frühen Vertreter unserer eigenen Spezies.
Mögliche Quellen der prähistorischen Bleibelastung könnten damals kontaminierte Wasserquellen, Böden und Vulkanausbrüche gewesen sein, wie die Forscher erklären.
Das wichtige Hirn-Gen NOVA1
Könnten die Phasen schleichender Bleivergiftung auch die Hirnentwicklung und Gesundheit unserer Vorfahren und ihrer frühmenschlichen Verwandten beeinträchtigt haben? Und welche Rolle spielten dafür die Gene dieser Menschenarten?
Um das herauszufinden, züchteten Boyau und sein Team sogenannte Hirnorganoide – kleine, im Labor gezüchtete Gewebestrukturen, die Teile des menschlichen Gehirns nachahmen –, deren genetische Ausstattung der von Neandertalern oder von modernen Menschen entsprach.
Diese Organoide unterscheiden sich vor allem in einem Gen: NOVA1. „Dieses Gen ist entscheidend für die frühe Hirnentwicklung und auch für die Entwicklung der Sprachfähigkeit“, erklären die Forscher. „Und es ist eines der Gene, die uns moderne Menschen von ausgestorbenen Hominiden unterscheidet.“
Frühmenschen einschließlich des Neandertalers besaßen eine archaische Version dieses Gens, während der Homo sapiens eine weiterentwickelte NOVA1-Genvariante entwickelt hat.
Deutliche Giftfolgen beim Neandertaler-Hirnmodell
In ihren Tests setzten Boyau und sein Team die verschiedenen Hirnorganoide jeweils zehn Tage lang erhöhten Bleidosen in Form von Bleiacetat aus. Dann führten sie verschiedenen genetische und molekularbiologische Analysen durch, um die Folgen auf die Entwicklung dieser Miniatur-Hirnmodelle zu ermitteln.
Die Hirnorganoide reagierten unterschiedlich auf die Bleibelastung. Die Organoide mit dem Neandertaler-Gen zeigten deutliche Anzeichen einer beeinträchtigten Entwicklung. Mehrere wichtige Signalwege und Gene waren gestört, darunter auch ein Gen, FOXP2, das für unsere Sprachfähigkeit unverzichtbar ist.
Bei den Mini-Hirnen mit der modernen Variante des NOVA1-Gens war dies jedoch nicht der Fall. „Das deutet darauf hin, dass unsere NOVA1-Variante uns besser gegen neurologische Schäden durch das Blei schützt“, so das Team.
Evolutionärer Vorteil für Homo sapiens
Nach Ansicht der Forschenden legen diese Ergebnisse nahe, dass das Umweltgift Blei die Menschheitsgeschichte in entscheidender Weise beeinflusst haben könnte.
„Dies ist ein außergewöhnliches Beispiel dafür, wie ein Umweltfaktor – in diesem Fall die Bleitoxizität – genetische Veränderungen angestoßen haben könnte, die das Überleben und unsere Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation verbessert haben“, erklärt Seniorautorin Alysson Muotri von der University of California in San Diego.
Eine mögliche Folge wäre, dass die Neandertaler und andere Frühmenschen in ihrer Sprachfähigkeit eingeschränkt blieben. Weil der Homo sapiens jedoch die schützende NOVA1-Genvariante besaß, konnten unsere Vorfahren besser sprechen und komplexere Kommunikation entwickeln. Möglicherweise trug dies dazu bei, dass sich unsere Vorfahren gegenüber dem Neandertaler durchsetzten und dieser schließlich ausstarb.