„Für die EU sprechen viele gute Gründe“

Das Interview: Christina Berghoff, Europabeauftragte des Landkreises, erklärt, was Europa den Menschen im Kreis bringt

Europa wird häufig als Bürokratiemonster wahrgenommen, als eine Institution, die sich zu sehr um banale Themen wie den Krümmungsgrad der Gurke kümmert. Ist es aber wirklich so schlimm? Die Europäische Union leistet viel – nur merken es die Leute oft nicht. Die Europabeauftragte des Landkreises, Christina Berghoff, erklärt vor der Europawahl, wie und wo Europa wirkt.

„Für die EU sprechen viele gute Gründe“

„Wir brauchen eine starke und politisch geeinte, demokratische EU“: Christina Berghoff, Europabeauftragte des Landkreises. Foto: A. Becher

Von Armin Fechter

Drei Viertel der Deutschen sind laut einer Umfrage für die EU-Mitgliedschaft. Welche Gründe sprechen aus Ihrer Sicht dafür?

Für die EU-Mitgliedschaft sprechen aus meiner Sicht viele gute Gründe. Um es mit drei Schlagworten zu sagen: Frieden, Freiheit und Wohlstand. Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass wir seit über 70 Jahren Frieden haben, garantiert durch die EU. Wir können innerhalb der EU in der Regel ohne Grenzkontrollen reisen, und wir können arbeiten, kaufen oder investieren, wo wir wollen. Die Wirtschaft der EU ist weltweit immer noch eine der stärksten, es gibt freien Handel und fairen Wettbewerb. Um in der Welt überhaupt eine Rolle zu spielen, muss die EU gemeinsam und stark auftreten. Der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung wird weiter sinken. Daher wird die EU immer wichtiger, um die europäischen Interessen in einer globalisierten Welt, in der wir leben, zu vertreten.

Welche Errungenschaften verknüpfen Sie mit der EU?

Es ließen sich unzählige Beispiele aufzählen, zum Beispiel im Verbraucher- oder Umweltschutz. Elektronische Geräte haben durch die EU mindestens zwei Jahre Garantie. Die Roaming-Gebühren beim Telefonieren wurden abgeschafft. Es gelten einheitliche Grenzwerte für Luftreinheit oder auch gleich hohe Standards in Sachen Sicherheit, bei Lebensmitteln oder Trinkwasser.

Was bringt Europa dem Rems-Murr-Kreis?

Europa begleitet uns den ganzen Tag über, angefangen beim Frühstück mit französischen Croissants über Kosmetika, die ohne Tierversuche hergestellt worden sind, Rückgaberecht beim Online-Kauf, die Auflistung von Inhaltsstoffen bei Lebensmitteln bis hin zum abendlichen Besuch im Kabirinett in Spiegelberg, das von der EU gefördert wurde. Die EU bringt dem Rems-Murr-Kreis eine breite Vielfalt an Förderungen, unter anderem in der Landwirtschaft oder im sozialen Bereich. Der Europäische Sozialfonds ist beispielsweise ein Finanzierungsinstrument der EU, das Menschen in Arbeit bringen soll. Ein regionaler Arbeitskreis kann dabei selbst gewichten, welche Projekte im Kreis gefördert werden sollen.

In der Landwirtschaft schlägt die EU nicht immer zur Freude der Bauern zu. Über welche Erfahrungen können Sie berichten?

Im Rems-Murr-Kreis kommen aus der EU etwa 8,5 Millionen Euro im Jahr in der Landwirtschaft an. Natürlich gibt es auch Regelungen und Standards, die der Umwelt, dem Tierschutz und dem Verbraucherschutz zugutekommen. Schlussendlich profitiert die Landwirtschaft in meinen Augen stark von der EU.

Wie wird die EU sonst noch im Rems-Murr-Kreis spürbar?

Ein Beispiel ist das Leader-Förderprogramm zur Stärkung und Weiterentwicklung ländlicher Räume. Unser Aktionsgebiet liegt im Schwäbischen Wald. Es gibt sieben Handlungsfelder, in denen Projekte gefördert werden, unter anderem Wirtschaft, nachhaltiger Tourismus und attraktive Familienregion. Vor allem für junge Menschen ist das Austauschprogramm Erasmus plus wichtig. Es steht Studenten, Schülern und Lehrern, Auszubildenden, Bildungspersonal im weiteren Sinne oder Sportlern offen. Ziel ist es, Auslandserfahrungen zu sammeln, voneinander zu lernen und interkulturelle Kompetenzen zu erlangen.

Und was leistet der Europäische Sozialfonds?

Es gibt im Kreis aktuell sieben Projekte, die aus ESF-Mitteln gefördert werden, zum Beispiel das Projekt „Startklar“ der Diakonie Stetten. Es richtet sich an arbeitslose Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie sollen für den Alltag stabilisiert werden, damit eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gelingen kann. Bei einem Projekt des Kreisjugendrings und des Kreisdiakonieverbandes – „Chancen nutzen, Zugänge schaffen“ – werden Jugendliche unter anderem bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz unterstützt und bis zu einem erfolgreichen Abschluss begleitet.

Und wohin genau fließen die Mittel aus den Programmen Leader und Erasmus plus?

Mit Leader-Mitteln wurden beispielsweise der Erhalt der Mahlstube bei der Meuschenmühle in Alfdorf und ein Bewegungspark in Welzheim unterstützt, außerdem die bedarfsgerechte Anpassung einer Arztpraxis an moderne Anforderungen in Murrhardt. Dort war kürzlich auch Minister Guido Wolf zu Besuch. Bei diesem Kreisbesuch hat er auch ein Erasmus-plus-Projekt der Eduard-Breuninger-Schule in Backnang angeschaut. Schüler aus Backnang und aus den Partnerschulen in Italien, Spanien und Polen bereiten sich dabei gemeinsam auf den europäischen Arbeitsmarkt vor. Einen anderen Schwerpunkt hat das Erasmus-plus-Projekt „Emor – Electromobility on the Road“ der Gewerblichen Schule Backnang. Mechatronik-Schüler durchleuchten dabei mit Schülern ihrer finnischen Partnerschule die Alltagstauglichkeit von Elektromobilitätskonzepten.

Gibt es noch weitere direkte Verbindungen zwischen hier und anderen EU-Ländern?

Natürlich lässt sich die EU auch mit den vielen Partnerschaften von Schulen und mit den Städte- und Kreispartnerschaften erleben. Ich halte es für unheimlich wichtig, dass der Gesprächsfaden auf kommunaler Ebene zwischen den Menschen nicht abreißt, auch wenn die große Politik zum Teil vor großen Herausforderungen steht. EU heißt für mich, miteinander zu reden, nur so können Vorurteile abgebaut oder Verständnis füreinander aufgebaut werden. Im Landratsamt unterstützen wir junge Menschen dabei, ins Ausland zu gehen. Wir haben dazu ein Projekt entwickelt, Azubi Abroad, das unseren Azubis nach ihrem Abschluss die Möglichkeit bietet, Auslandserfahrungen und interkulturelle Kompetenzen zu sammeln.

Wenn Europa so gut ist, wie Sie sagen: Warum gibt es denn etliche Länder, die zwar die Fördergelder gerne abgreifen, von der europäischen Idee aber wenig wissen wollen und sogar den Austritt anpeilen oder erwägen?

Es gibt oftmals ein verzerrtes und falsches Bild von der EU. Wenn man beispielsweise an den Brexit denkt, sind nach dem Votum die Google-Anfragen hochgegangen, was denn die Europäische Union überhaupt bedeutet. Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, was sie an der EU haben, dann kann das nationalistischen und populistischen Tendenzen in der EU Raum geben. Es gibt viele verschiedene Interessen und Interessensgruppen, und auch in Großbritannien stellt sich die Frage, wie die EU in der Nation dargestellt wird und was beim Bürger ankommt.

Was sind Ihre Aufgaben als Europabeauftragte im Landratsamt?

Meine Aufgaben sind sehr vielfältig. Ich möchte es so zusammenfassen, dass ich verschiedene Themen zusammenführe, Projekte koordiniere, Veranstaltungen organisiere und eine Netzwerkfunktion wahrnehme. Ich berate und informiere über Förderprogramme. Beim ESF bin ich im Vorsitz des regionalen Arbeitskreises, bei Leader bin ich auch im Vorstand mit dabei. Ich betreue die Kreispartnerschaften mit dem Landkreis Meißen in Sachsen, dem Rayon Dmitrow in Russland und dem Komitat Baranya in Ungarn. Ich bin im Übrigen bei der Wirtschaftsförderung der Region Stuttgart angestellt, aber hier im Landratsamt eingesetzt. Das hilft mir, weil ich stark in die regionalen Strukturen und Netzwerke eingebunden bin. Die Region hat ja auch ein eigenes Büro in Brüssel. Dadurch habe ich schnellen Kontakt zu den relevanten Europa-Themen.

Was wünschen Sie der Europäischen Union?

Ich wünsche der Europäischen Union, dass sie besser verstanden wird und Vorurteilen entgegenwirken kann. Oftmals habe ich das Gefühl, dass die EU immer noch als „Bürokratiemonster“ wahrgenommen wird, das nur kleinteilige Vorschriften hervorbringt. Um ein besseres Verständnis aufzubauen, muss die EU näher an die Bürger heranrücken und ihnen die Alltagsrelevanz der Themen verdeutlichen. Um global überhaupt eine Rolle zu spielen, brauchen wir eine starke und politisch geeinte, demokratische EU. Daher wünsche ich mir und wünsche es auch der EU, dass möglichst viele Bürger ihre Chance ergreifen, um bei der Europawahl wählen zu gehen, und sich für eine starke Europäische Union einsetzen.

Zur Person
Christina Berghoff

Christina Berghoff ist in Fellbach aufgewachsen und jetzt 32 Jahre alt.

Nach dem Abitur absolvierte sie ein Studium der Kommunikationswissenschaften in Hohenheim. Anschließend studierte sie Geografie des globalen Wandels in Freiburg mit Masterabschluss 2012.

Erste berufliche Station war eine Unternehmensberatung in Degerloch, die sich auf Nachhaltigkeit spezialisiert hatte.

Seit 2015 ist sie beim Landratsamt im Rems-Murr-Kreis tätig, zunächst zwei Jahre lang als Klimaschutzmanagerin und seit zwei Jahren als Europabeauftragte. Die Stelle wurde 2009 neu geschaffen.