Gewachsener Nachbarschaftsgeist

Die Leute von nebenan (7): Weilergemeinschaft bei Murrhardt genießt Mischung aus Miteinander, Freiheit und Natur

Das kleine Tal südlich von Mettelbach ist urig, schmal und von Wald umringt. An der überschaubaren Straße entlang liegen vier größere, teils stattliche Häuser – die majestätische Schlossmühle sowie die Anwesen der Mettelberger Sägmühle, des hinteren Mettelbachs und des unteren Bruchs. Die Bewohner dieses schönen Fleckens Erde schätzen die Nähe zur Natur genauso wie die Gemeinschaft. Über die Jahre haben sich freundschaftliche Beziehungen, eine Art natürliches Netzwerk, entwickelt.

Gewachsener Nachbarschaftsgeist

Zwei Ortsschilder versammeln die Namen der Anwesen der Weilergemeinschaft südlich von Murrhardt nahe dem Teilort Mettelbach. Die Bewohner haben eine gute Balance von Geben und Nehmen, Leben und Leben-Lassen gefunden – hier (hinten von links) mit Rolf Krawtschuk, Alwin Mangold, Martin Röhrle, Annika Siegle, Evi Huber und Birgit Mangold sowie (vorne von links) Paul Röhrle und Nathanael Siegle. Foto: J. Fiedler

Von Christine Schick

MURRHARDT. Lore Schmidt sitzt in der guten Stube und schaut nach draußen in die Wintersonne. Sie lebt schon ihr ganzes Leben im hinteren Mettelbach. Es sei gut hier mit den Tieren, der Natur, sagt sie. Früher auf dem elterlichen Hof gab es Kühe, neben der Milchwirtschaft verdiente ihr Vater den Lebensunterhalt auch mit Holzverkauf – in jeglicher Form – vom Brennscheit bis zum Bohnenstecken. 1935 geboren, waren für sie Krieg und Kriegsende einschneidende Erlebnisse. Über die konnte Lore Schmidt am besten mit ihrer Freundin und Nachbarin Hannelore Häußermann vom unteren Bruch reden. Bei den Nachbarn vorbeizuschauen, gehörte von Anfang an ganz selbstverständlich mit dazu, erzählt sie. „Ich war ja Einzelkind, und dann stand ich einfach bei den Nachbarn in der Stube. Ich war eine echte Fleckenbäs.“ Mal hat sie einen Apfel bekommen, mal einen Spielgefährten – allein in der Mettelberger Sägmühle waren es 13 Kinder. Heute ist es Nathanael Siegle, der bei ihr vorbeischaut. Der Siebenjährige, der im hinteren Mettelbach geboren ist, sei schwer auf Zack, sagt sie mit einem Lächeln, und manchmal gehen die beiden eine Runde bis zum Waldrand oder schauen Stücke ihrer Sammlung von versteinerten Holzstücken an.

Geschickt ist, dass Nathanael mit seinen Eltern Annika Siegle und Martin Röhrle gleich nebenan wohnt. Am Nachmittag steht bei der Familie Pauls Geburtstagsfeier mit einer ganzen Reihe an Gästen auf dem Programm. „Ich find es schon schön, viel draußen sein und in den Wald gegen zu können“, sagt der 14-Jährige. Der Weg zu den Freunden in Welzheim sei allerdings ein ziemliches Stück. „Was echt fehlt, ist ein Radweg bis an die Strecke im Fornsbacher Tal“, sagt Martin Röhrle. „Auf der Straße hier wird einfach zu schnell gefahren.“ Aus diesem Grund wollte Annika Siegle auch Nathanael und Mark nicht alleine nach Murrhardt mit dem Rad fahren lassen. Heute gehen die beiden in die Waldorfschule Backnang, die Mobilität bleibt also ein Thema, auch wenn Mark ganz frisch einen Roller bekommen hat. „Bisher konnte ich nach der Schule nicht einfach weg“, sagt er. „Aber es ist toll, dass man immer raus kann, man hat viel Freiheit.“

Ein Beispiel: Welcher 15-Jährige hat die Möglichkeit, als Schulprojekt sich einfach eine Fahrrad-Cross-Strecke hinter dem Haus zu bauen und zu dokumentieren? Auch für Martin Röhrle und Annika Siegle als die jüngsten unter den Nachbarn gibt es noch einige Pluspunkte. „Wir sind 2010 hergezogen, haben ein Haus mit einem Grundstück gesucht“, sagt Röhrle. Zwar war sich Annika Siegle nicht ganz so sicher, wie das Leben doch etwas weg vom Schuss so für sie sein würde, aber schon beim Einzug hat sie die Hilfsbereitschaft der Nachbarn richtig beeindruckt. Auf die kann sie einfach zählen – ob bei kleinen Abhol- oder Bringdiensten für die Kinder oder der Mähhilfe per Traktor von Jürgen Huber von der Schlossmühle. Auch die Gespräche mit Lore Schmidt oder Birgit Mangold bauen sie manchmal moralisch auf, wenn sie das Gefühl hat, Beruf, Kinder und die vielen Alltagsaufgaben schwer unter einen Hut zu bringen. „Das generationsübergreifende Zusammenleben hier ist klasse, wobei ich das Gefühl habe, dass wir in unserer Lebensphase gerade mehr von der Gemeinschaft profitieren als vielleicht umgekehrt“, sagt Annika Siegle. Beim Gang durch den Weiler meint Martin Röhrle: „Die Jahreszeiten spielen hier eine größere Rolle.“ Nachts ist es wirklich dunkel, und man sieht die Sterne gut. Die Nähe zur Natur bringt es mit sich, dass sich der Habicht auch mal eines der Hühner holt, aber eben diese Nähe will er nicht missen.

Gespräche zwischen den Generationen und die Nähe zur Natur sind wertvoll

Wenn Rolf Krawtschuk in Stuttgart war oder auch einfach von der Arbeit nach Hause fährt, kann er beim Ankommen in der Mettelberger Sägmühle regelrecht durchatmen. „Es ist ein bisschen, wie wenn ich eine Lichtschranke passieren würde“, sagt er. „Ich hab hier meinen Seelenfrieden gefunden.“ Nicht wirklich weit – im Kernteilort Mettelbach – von hier aufgewachsen, hat er die Mühle, die schon seinen Urgroßeltern gehörte, bereits als Kind erlebt. Als sein Onkel ihm 1990 anbot, das Anwesen zu übernehmen, musste er nicht lange überlegen. Mit Alwin Mangold steht er im Hof vor dem Haus und die beiden sind sich einig, dass in ihrem Täle ein guter Gemeinschaftsgeist herrscht. Jeder hilft jedem, so wie er eben kann. „Wir haben auch manchmal vom Bubentäle gesprochen“, sagt Alwin Mangold mit einem Schmunzeln, beide sind Väter zweier Söhne. Er selbst wurde 1987 Tälesmitglied, zog mit seiner Frau Birgit – Tochter von Lore und Hans Schmidt – von Fornsbach in den hinteren Mettelbach.

Was ist das Geheimnis einer gelingenden Gemeinschaft? Die beiden tragen zusammen, was sie für wichtig erachten. Die großen Grundstücke kleben nicht dicht aufeinander und erlauben es jedem, sich je nach Bedürfnis auch mal zurückzuziehen. Gleichzeitig sorgt das gegenseitige Helfen für Kontakt, bei dem man sich austauscht: Jürgen Huber von der Schlossmühle unterstützt beim Holzspalten mit einer Maschine, Rolf Krawtschuk bei Fragen zu Elektrik und Alwin Mangold schaut mal nach den Pferden, Katzen oder anderen Tieren. „Es gehört natürlich auch eine gewisse Gastfreundlichkeit dazu. Wenn man sich sieht, fragt der andere: ‚Möchtest du ein Bierchen mittrinken?‘“, sagt Alwin Mangold. Seit 2006 gibt es außerdem ein Public Viewing in einer Scheune, zu dem bei Fußballevents auch Freunde, Bekannte und Geschäftskollegen kommen.

Die beiden schätzen es, dass sie das gute Zusammenleben so pflegen können. „Das liegt natürlich auch an jedem Einzelnen“, meint Rolf Krawtschuk. „Jeder von uns braucht auch das richtige Fingerspitzengefühl dafür“, dem anderen Raum lassen und sich selbst nicht allzu sehr abheben zu müssen oder überempfindlich zu sein. Sie sind jedenfalls froh, dass die Gemeinschaft von Nachbarschaftsstreitigkeiten verschont geblieben ist, die sich, von außen betrachtet, ja oft an Lappalien entzündeten.

Mit Blick auf die Vergangenheit hat Alwin Mangold dabei schon wieder Verständnis – denn vor dem Wohlstand, den die Menschen heute hier genießen, war sprichwörtlich jeder Grasbüschel, Apfel und Baum, der sich an einer Grundstücksgrenze befand, wertvoll und konnte logischerweise zum Streitfall werden.

Ihre ganz eigene Vergangenheit und Geschichte hat die Schlossmühle, die einen extra Beitrag wert wäre. In zehn Jahren wird sie 300 Jahre alt, erzählt Evi Huber, die mit ihrem Mann Jürgen und ihren beiden Kindern dort lebt. Vor rund 20 Jahren machten sie sich auf die Suche nach einem Anwesen, auf dem auch Pferdehaltung möglich war, und wurden 2000 fündig. Tun lässt sich bei einem historischen Gebäude immer etwas, ganz abgesehen von den Alltagsdingen wie Holzheizung, Garten- oder Stallarbeit. Auch ein Siebenschläfer hat die Mühle zu seiner Heimat erklärt. Das Ehepaar lässt auf die Weilergemeinschaft nichts kommen. „Sie ist super, verlässlich, wenn mal ein Notfall ist, sind die Leute da. Es ist ein Geben und Nehmen“, sagt Evi Huber. Einen Wunsch hat sie dennoch – Anschluss ans Breitbandinternet. Wenn Jürgen Huber im Homeoffice zu Hause arbeitet, sind die Kapazitäten für die anderen Familienmitglieder ausgereizt.

Für Annika Siegle ist die Gemeinschaft genauso ein wichtiger Punkt, sich im hinteren Mettelbach heimisch zu fühlen. „Die Kinder sind willkommen und die menschliche Ebene ist toll“, sagt sie. Auch wenn die Verbindungen unterschiedlich intensiv seien, lerne man voneinander und tausche sich aus. Es sei eine gute Mischung aus Interesse, Toleranz und Humor. „Wir diskutieren manchmal auch ein bisschen über Politik. Das Verbindende ist, glaube ich, dass allen am Naturschutz gelegen ist“, sagt sie. „Aber auch wenn Einzelne unterschiedliche Parteien gut finden, hört man dem anderen zu.“ Vielleicht ist einer der Punkte auch, dass alle mit ihrem Anwesen, der Natur, Freiheit und ihren ganz persönlichen Projekten auch genug zu tun haben – keine Zeit, zu streiten, sagt sie und lächelt.