Haarscharf amAtomkriegvorbei

Pakistan und Indien spielen mit dem Feuer

Von Willi Germundund Agnes Tandler

Die beiden Atommächte Indien und Pakistan gehen wieder auf Konfrontationskurs. Hintergrund sind zwei Anschläge im indischen Kaschmir. Nach einem indischen Luftangriff kündigt Pakistan Vergeltung an.

Neu-delHi Es begann mit einem Strich auf der Landkarte – ein Brite besiegelte im August 1947 das Schicksal von Millionen auf dem indischen Subkontinent: Bezirke mit muslimischer Mehrheit sollten zu Pakistan, der Rest zu Indien gehören. So endete der Freiheitskampf Mahatma Gandhis in Gewalt, Tod und Vertreibung. Seit Jahrzehnten pflegen Pakistan und Indien ihre Feindschaft – mit einer hochbrisanten Note: Beide Staaten sind Atommächte.

„Ich verstehe eure Freude”, begrüßte ­Indiens Regierungschef Narendra Modi am Dienstag die jubelnde Masse in der ­Wüstenstadt Churu in Rajasthan. Zwölf ­Tage nach dem Terrorattentat auf einen ­indischen ­Militärkonvoi in Kaschmir mit 40 Toten hatte Indien mit einer offensiven ­Militäroperation gegen den Erzfeind ­reagiert. Indische Kampfjets bombardierten ein angebliches Terrorcamp nahe der ­pakistanischen Stadt Balakot. Laut ­indischen Angaben sollen über 300 islamische Kämpfer der Terrororganisation Jaish-e-Mohammed bei dem Luftschlag getötet ­worden sein. Indiens Außenstaatssekretär Vijay Gokhale er­klärte, es handele sich um „eine präventive Aktion“, die speziell auf Trainingscamps der Terrororganisation Jaish-e-Mohammed ausgerichtet gewesen seien. Zivile Opfer seien vermieden worden.

Pakistans Armeesprecher Asif Ghafoor bestätigte, dass indische Kampfflugzeuge die Grenzlinie zu Pakistan verletzt hätten. Es habe keinerlei Schäden oder Verluste gegeben, so Ghafoor. Die indischen Kampfjets hätten sich „eiligst wieder zurückgezogen“, nachdem pakistanische Militärflugzeuge aufgestiegen seien. Die Wahrheit gehört bei dem jahrzehntelangen Streit zwischen den beiden Atommächten regelmäßig zum ersten Opfer des Konflikts.

Der pakistanische Ministerpräsident Imran Khan rief seine Streitkräfte und Landsleute dazu auf, auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein. Armeesprecher Ghafoor sagte, für Indien sei es nun an der Zeit, auf die Antwort zu warten. Es solle sich auf eine Überraschung einstellen. Berichte über Truppenbewegungen auf beiden Seiten mehren sich.

Bewohner in beiden Teilen Kaschmirs ­acken ihre Habseligkeiten zusammen und flüchten. Als Grenze dient die Waffen­stillstandslinie von 1949, die international nicht anerkannt ist. Separatisten im ­indischen Teil kämpfen seit Langem für eine Unabhängigkeit von Indien, das mehrheitlich hinduistisch ist. Indien unterhält eine massive Polizei- und Militärpräsenz in dem Himalaja-Gebiet.

Die Menge im indischen Churu feierte unterdessen die Aktion überschwänglich. „Unser Land ist in sicheren Händen“, versicherte ihnen der hindunationalistische Premierminister. Modi muss im April um seine Wiederwahl kämpfen – und nutzte die Gelegenheit, die Stimmung in Indien anzuheizen. Unterstützung erhielt Indiens Regierung auch von bekannten Persönlichkeiten wie Sachin Tendulkar. „Unsere Freundlichkeit sollte nie als Schwäche verstanden werden”, schrieb Indiens ehemaliger Cricket-Nationalspieler auf Twitter. In den vergangenen Tagen hatte es in ganz Indien antipakistanische Proteste gegeben.

Indiens Militäreinsatz verstärkt die Sorge, dass die Situation zwischen den beiden feindlichen Atommächten weiter hochschaukeln könnte. Beide Staaten besitzen laut den Stockholmer Friedensforschern von Sipri jeweils zwischen 130 und 150 Atomsprengköpfe, von denen jeder etwa die Stärke der über Hiroshima abgeworfenen Bombe hat, sowie ein Arsenal von Trägerraketen. Islamabad bestätigte zudem den Besitz „taktischer Atomwaffen“. Damit sind kleine Sprengköpfe für den Einsatz auf dem Schlachtfeld gemeint. Sie sollen aber noch nicht dem Befehl lokaler Kommandeure unterstellt worden sein. Pakistans Streitkräfte-Chef, General Qamar Javed Bajwa, ist bemüht, die rund 600 000 Mann starken Landstreitkräfte, die laut Diplomaten in der jüngsten Vergangenheit überwiegend an der Grenze zu Afghanistan im Einsatz waren, wieder vermehrt für dem Kampf gegen die 1,2 Millionen Soldaten umfassende Armee Indiens zu wappnen.

Es ist das erste Mal seit dem Indisch-Pakistanischen Krieg von 1971, dass indische Jets in den von Pakistan kontrollierten Luftraum eingedrungen sind. Pakistans Reaktion war entsprechend frostig. Außenminister Shah Mahmood Qureshi sagte, Indiens Regierung habe sich „erneut eigennützigen, verwegenen und frei erfundenen Behauptungen hingegeben“.

In der vergangenen Woche hatte Pakistans Regierungschef Imran Khan Indien vor einem Militärschlag gewarnt. Die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan befinden sich auf einem Tiefpunkt, nachdem am 14. Februar 40 Soldaten bei einem Selbstmordattentat auf einen Militärkonvoi im indische Kaschmir ums Leben kamen. Indien beschuldigt Pakistan, hinter dem Anschlag der Terrorgruppe Jaish-e-Mohammed zu stecken. Pakistan weist die Anschuldigungen indes von sich. Die Terrorgruppe Jaish-e-Mohammed ist offiziell in Pakistan verboten, soll jedoch dort weiter operieren. Die Gruppe wird zahlreicher Terrorattentaten in Indien bezichtigt – unter anderem eines Anschlags auf das indische Parlament in Neu-Delhi 2001, der fast einen Krieg zwischen Indien und Pakistan auslöste.

Trotz der Euphorie auf indischer Seite gab es auch besonnene Stimmen. „Krieg ist kein Picknick“, warnte Indiens Ex-Geheimdienstchef Amarjit Singh Dulat. Ein Konflikt würde verheerende Folgen für den ganzen Kontinent haben. Die Furcht vor einer Eskalation des Konfliktes ist nicht unbegründet: Die beiden verfeindeten Atommächte haben bereits drei Kriege gegeneinander geführt – den letzten davon 1999.