Gregor Gysi spricht im Interview über Baden-Württemberg, den Zustand seiner Partei, den Nahostkonflikt – und verrät, welchen väterlichen Rat er Philipp Amthor mitgegeben hat.
Gregor Gysi in einem Hotel in Tübingen – im Neuen Kunstmuseum ist er demnächst öfter im Rahmen einer Gesprächsreihe zu sehen.
Von Sascha Maier
Gregor Gysi ist der älteste Abgeordnete im deutschen Bundestag und hat seine Partei Die Linke geprägt wie wahrscheinlich kein anderer. Wir haben den 77-Jährigen in Tübingen getroffen und mit ihm über sein Leben, Sahra Wagenknecht und Thomas Strobl sowie den Riss, der beim Thema Nahostkonflikt durch seine Partei geht, gesprochen.
Herr Gysi, in der Kneipe La Concha in Stuttgart erinnert man sich noch an Sie, hat neulich der Wirt dort erzählt. Erinnern Sie sich noch an das La Concha?
Ich kann mir die einzelnen Orte, an denen ich so war, leider nur schwer merken. Das gilt für Plätze wie für Lokale, ich habe in 35 Jahren Politik einfach zu viele Städte besucht. Aber Stuttgart ist eine bedeutende Landeshauptstadt.
Jetzt sind wir wieder in Baden-Württemberg, in Tübingen. Wie ist ihr Eindruck vom Ländle?
Das hat mir an Baden-Württemberg, dem Land des Mittelstandes immer gefallen: dass es trotz der Größe irgendwie handlich ist. Es gibt auch unhandliche Bundesländer.
Welche denn?
Das sage ich jetzt nicht. Aber noch mal zu Stuttgart: Daran ist natürlich beachtlich, dass es die erste Landeshauptstadt ist, die einen grünen OB hatte, Fritz Kuhn, den ich auch aus unserer gemeinsamen Zeit im Bundestag kenne. Das kam natürlich auch groß in der „Tagesschau“. Als mit Angelika Gramkow zuvor die erste PDS-Politikerin Oberbürgermeisterin der Landeshauptstadt Schwerin wurde, hat das die „Tagesschau“ aber nicht interessiert.
In etwa zehn Monaten ist in Baden-Württemberg Landtagswahl. Verfolgen Sie den Wahlkampf?
Da ist einmal Cem Özdemir für die Grünen, und Thomas Strobl tritt ja für die CDU nicht erneut an, seinen Nachfolger kenne ich nicht...
...der heißt Manuel Hagel; was halten Sie denn von Strobl?
Den kenne ich auch aus dem Bundestag. Ein Konservativer der umgänglichen Art. Ich glaube, wenn du mit dem etwas verabredest, dann hält er das auch ein.
Wem drücken Sie bei der Landtagswahl die Daumen?
Bei einem Wettbewerb zwischen CDU und Grünen eher den Grünen. Und dass wir erstmals in den Landtag in Baden-Württemberg einziehen könnten, wenn man aktuellen Umfragen Glauben schenkt, freut mich natürlich besonders.
Neulich sagten Sie: Ich will, dass die CDU in den Parlamenten vertreten ist.
Ich finde es wichtig, dass dort auch konservative Interessen vertreten werden. Darum war es für uns als Linke auch wichtig, uns neu aufzustellen, um den Einzug in den Bundestag wieder zu schaffen: Weil wir dort sonst einen verengten Diskurs von der Mitte bis Rechtsaußen hätten.
Lassen Sie uns noch kurz in Baden-Württemberg bleiben: Wenn Die Linke den Einzug in den Landtag schafft, was kann sie dort erreichen?
Sie müssen begreifen, dass sie dort keine Weltpolitiker sind und sich auf die Landespolitik zu konzentrieren haben.
Sie sind im Bundestag die jüngste Fraktion, fast die Hälfte ihrer Parteimitglieder ist erst seit einem halben Jahr Mitglied. Können Sie das?
Erstmal sind wir froh, über 100 000 Mitglieder zu haben, da ist ein ganz schöner Bestand entstanden. Der „Spiegel“ analysierte, wie ich finde richtig, dass das nicht so sehr wegen unserer Position, sondern wegen unserer Haltung war. Heidi Reichinnek hat die Jugend erreicht, nachdem Friedrich Merz noch im alten Bundestag mit Stimmen der AfD die Asylgesetze verschärfen wollte, und kommuniziert: Wir machen da nicht mit.
Das beantwortet meine Frage nicht.
Sehen Sie, als ich jung war, wollte ich die Welt auch verändern. Was man lernen muss: Wenn man eine Aufgabe übernimmt, muss man sich der Aufgabe stellen. Ich finde es darum günstig, wenn junge Leute sich zunächst mit Kommunalpolitik beschäftigen. Übrigens ein Rat, den ich vielen jungen Politikern, auch unser Bundestagsfraktion mitgegeben habe: Es ist wichtig, dass die Jungen in den Bundestag kommen und den Alten klar machen, dass es um ihre Zukunft geht. Und dann nach acht Jahren etwas anderes zu machen, zum Beispiel in die Pflege zu gehen. Diesen Rat habe ich übrigens auch Philipp Amthor gegeben, aber ich glaube nicht, dass er ihn sich zu Herzen nimmt.
Sie sprechen viel mit Politikern anderer Parteien – mit allen?
Die AfD lehne ich als rechtsextreme Partei ab. Sie hat die Kultur im Bundestag zerstört. Früher waren wir der Hauptstörenfried, wenn man so will, aber inzwischen haben sich die anderen an uns gewöhnt.
Es gibt da noch eine andere Partei, bei der sich die Frage aufdrängt, ob sie mit der noch sprechen.
Ich habe Sahra Wagenknecht ja davon abgeraten, zu gehen. Und jetzt kommt es, wie ich es vorausgesagt habe: Das BSW würde am Anfang erfolgreich sein, dann wird der Verein zerbröseln. Außer im Saarland, das die Familie Lafontaine-Wagenknecht ja gewissermaßen als ihr Eigentum betrachtet, kam die Partei in keinem alten Bundesland bei der Bundestagswahl auf fünf Prozent oder mehr.
In den neuen Bundesländern sieht das aber anders aus. Zumal – wenn auch zaghafte – Gespräche zwischen BSW und AfD stattfinden.
Auch dann bleibe ich dabei: Die Zeit arbeitet nicht für sie, sondern gegen sie. Auch wenn sie bei Themen wie Migrationspolitik oder Europapolitik gut zueinander passen.
Vermissen Sie manche alten Parteikollegen, die jetzt beim BSW sind? Immerhin haben Sie viel Zeit miteinander verbracht.
Mir fallen drei Leute ein – und bevor Sie fragen, ich nenne nicht die Namen –, denen ich das übel nehme. Ich glaube auch, dass sie für ihren ganz persönlichen Lebensweg die falsche Entscheidung getroffen haben.
Kaum ist das BSW abgespalten, tun sich bei der Linken aber neue Fronten auf. Als Ines Schwerdtner im Talk mit Tilo Jung erklärte, warum Die Linke bei einer Demo für Solidarität mit Gaza vorsichtig vorgehen und antisemitische Symbole verhindern will, wurde sie in sozialen Netzwerken dafür angefeindet, auch aus den eigenen Reihen.
Da bin ich ganz auf ihrer Seite. Neulich hat ein Parteimitglied gesagt, die Hamas sei eine Befreiungsorganisation. Ich habe seinen Ausschluss gefordert und das ist auch passiert. Die fünf bis sechs Leute, die seine Haltung teilten, sind dann freiwillig ausgetreten. Darüber war ich ehrlich gesagt froh. Übrigens leistet die Hamas null Beiträge für die Befreiung der Palästinenser.
Dennoch gibt es Mitglieder in Ihrer Partei, die nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 auffällig schweigsam waren und denen die Kritik der Partei an Israel nicht weit genug geht.
Als ich neulich im Bundestag sprach, redete ich über die Juden, von ihrer Ausgrenzung bis hin zu ihrer industriellen Vernichtung in Deutschland. Aufgrund der erlebten Shoah haben sie ein Recht auf einen eigenen Staat. Aber daraus entspringt für Deutschland auch eine besondere Verantwortung für Palästina. Denn auch die Palästinenser haben ein Recht auf einen eigenen Staat. Für diese ja doch ausgewogene Sichtweise erhielt ich nach der Rede von der Fraktion sehr starken Applaus und zwei Drittel standen sogar auf – das war mir dort noch nie passiert.
Sie haben selbst jüdische Wurzeln. Sind sie deshalb vorsichtig mit dem umstrittenen Begriff Genozid im Kontext mit der israelischen Kriegsführung im Nahostkonflikt? Viele Ihrer Parteikollegen gebrauchen ihn ja ständig, bei ihnen habe ich keine solche Äußerungen finden können.
Ich bin dagegen, dass wir gleich von Völkermord sprechen. Wir entwürdigen diese Worte, wenn wir sie nicht mit Bedacht einsetzen. Es ist ja nicht so, dass Israel das Ziel hätte, alle Palästinenser umzubringen, wie es die Nationalsozialisten mit den Juden vorhatten. Wichtig ist aber auch: Ein palästinensisches Kind trägt keine Verantwortung für die Verbrechen der Hamas. Und so entsetzlich es ist, was die Hamas getan hat, ein Kriegsverbrechen rechtfertigt kein anderes.
Da sind Sie sich sicher, dass Israel in Gaza bewusst Kriegsverbrechen begeht?
Nach allen Informationen, die uns zur Verfügung stehen: Man kann nicht Zivilisten töten, um die Hamas zu treffen, auch wenn sie sich hinter ihnen versteckt.
Was soll Israel stattdessen tun?
Begreifen, dass die Palästinenser eine Perspektive brauchen, sonst wird das nie enden. Solange sie keine haben, werden dort immer wieder Terrororganisationen Erfolg haben können. Was für mich ein echter Lichtblick war: Als ich Demonstrationen gegen die Hamas im Gazastreifen gesehen habe. Trotzdem muss jetzt erst mal ein dauerhafter Waffenstillstand her. Das gilt im Übrigen auch für den Krieg in der Ukraine.
Sie waren jahrelang SED-Mitglied. Kritiker werfen ihnen vor, einen getrübten Blick auf die Aggressionen Russlands zu haben.
Erstens verurteile ich den russischen Angriffskrieg, wie ich jeden völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verurteile. Zweitens spielt die SED in der Linken kaum mehr eine Rolle. Mitglieder mit SED-Hintergrund sind bei uns eine Rarität geworden. In unserer 64-köpfigen Bundestagsfraktion sind das nur noch Christian Görke, Dietmar Bartsch und ich, wir sterben aus. Und wir drei Silberlocken sollten uns nicht zu oft einmischen.
Wer sind für Sie die größten politischen Talente in Deutschland, von denen wir noch viel hören werden?
Schwer zu sagen, die Zeit spricht nicht für außergewöhnliche Persönlichkeiten, wie das nach dem Krieg der Fall war. Wir hatten eigentlich nur drei Kanzler mit einem politischen Ziel: Adenauer wollte die Westanbindung, Brandt die Aussöhnung mit dem Osten und Kohl die europäische Integration. Alle anderen waren mehr Verwalter.
Welche politischen Ziele würden Sie gerne noch zu Ihren Lebzeiten verwirklicht sehen?
Dass der Nahostkonflikt gelöst wird, der Krieg in der Ukraine endet und die innerdeutsche Einheit gelingt – das würde ich gern noch erleben.
GesprächsreiheGregor Gysi trifft in den nächsten Monaten unterschiedliche Persönlichkeiten im Neuen Kunstmuseum Tübingen, darunter die Theologin Margot Käßmann oder den ehemaligen „Bild“-Chefredakteur und Journalisten Kai Diekmann. Bei der Auftaktveranstaltung diskutierte er mit Tübingens OB Boris Palmer. Mehr Informationen zur Veranstaltungsreihe und Tickets hier.
Zur PersonGregor Gysi wurde 1948 in Berlin geboren und wuchs in der DDR auf. Er arbeitete dort später als Anwalt und war Mitglied der SED, deren Vorsitzender er während der Wiedervereinigung 1989 wurde. Später wirkte er in der umbenannten PDS und in der Partei Die Linke politisch in unterschiedlichen Funktionen weiter. Er ist der aktuelle Alterspräsident des Deutschen Bundestags, außerdem arbeitet er als Moderator. Gregor Gysi hat drei Kinder aus zwei Ehen und ist Mitglied des 1. FC Union Berlin.