„Ich find’s schön, wenn man alle kennt“

Leben auf dem Land Die Bedeutung der Nachbarschaft scheint in der modernen Gesellschaft zu schrumpfen. Doch auf dem Dorf wird Nachbarschaft für viele noch großgeschrieben. Erprobte Dorfbewohner erzählen, was Nachbarschaft für sie bedeutet.

„Ich find’s schön, wenn man alle kennt“

Martina Maier (links) und Nadine Dietrich (rechts) sind Nachbarinnen in Allmersbach am Weinberg. Regelmäßig treffen sie sich auf einen „Treppenkaffee“ für ein Schwätzchen. Foto: A. Becher

Von Anja La Roche

Rems-Murr. Noch vor Spiegelberg geht es rechts ab, die Straße schlängelt sich den Berg hoch. Und dann ist man in Dauernberg: Knapp 60 Einwohner, Straßennamen gibt es keine. „Ich wohne schon immer hier. Wo soll ich hin, wenn’s hier so schön ist?“, fragt Thorsten Massa (46). Er wohnt hier gemeinsam mit seiner Ehefrau Petra Massa (38) und seinen drei Kindern. Im Haus nebenan wohnen Mutter, Schwester, Schwager und zwei seiner Neffen.

Bis auf wenige Zugezogene kennt Thorsten Massa seine Nachbarn von Kinderbeinen an. Familie Massa ist sich einig: Den kleinen Ort, in dem alle Nachbarn vertraute Gesichter sind, würden sie niemals gegen ein Leben in der Stadt tauschen wollen. In Dauernberg haben Thorsten und Petra Massa genug Leute, mit denen sie sich gerne zusammensetzen, zum Beispiel zum Karten Spielen. Zudem hilft man sich gegenseitig, wann immer es nötig ist. Und falls man Freunde von außerhalb treffen möchte, steht das Auto vor der Tür.

Auch Martina Maier (56) möchte es nicht missen, in einer kleinen Gemeinschaft verwurzelt zu sein. Sie ist in Allmersbach am Weinberg in Aspach aufgewachsen und dort wohnhaft. Der Ort zählt 800 Einwohner. Wenn sie von ihrer Nachbarschaft spricht, sprüht ihre Stimme vor Freude: „Ich find’s schön, wenn man alle kennt“, sagt sie. „Ich kenn’s nicht anders und will’s nicht anders.“ Sie und ihre Nachbarn tauschen sich immer wieder aus, legen mal Geld für ein Geschenk zusammen, treffen sich spontan zum Grillen. Mit drei Nachbarinnen trifft sie sich regelmäßig auf einen Kaffee, den sie dann oftmals auf der Treppe vor dem eigenen Haus genießen. „Dann rufe ich einfach kurz rüber: Treppenkaffee.“

Besondere Wertschätzung für ihre Nachbarschaft verspürte Martina Maier auch bei der Hochzeit ihres Sohns im Mai 2020. Das richtige Fest konnte zu dieser Zeit nicht stattfinden, weil die Coronazahlen zu hoch waren. Doch auch an diesem Tag ergab sich ein toller Moment: „Die Nachbarn standen in ihren Gärten und haben gewunken, die Kinder haben ein riesen Herz auf die Straße gemalt“, erzählt Maier. Solche Szenen kann man in der Stadt nicht erwarten.

Eine gute Nachbarschaft, das bedeutet für die meisten nicht nur gemeinsames Kaffeetrinken und Grillen, sondern füreinander da zu sein. „Man bekommt alles mit, Geburten, Todesfälle, Krankheiten aber auch Momente großer Freude“, erzählt Maier. Man gehe gemeinsam durch harte und durch schöne Zeiten, ist füreinander da. Dabei habe sie schon früh gelernt, Verantwortung für andere zu übernehmen. „Man muss sich die gute Gemeinschaft verdienen. Es ist ein Geben und Nehmen“, erklärt sie. Martina Maier nimmt allerdings auch eine Veränderung wahr: „Heute will man mehr die Anonymität“, vermutet sie.

Gerade ältere Menschen, die sonst alleine wären können in dörflichen Strukturen sozialen Austausch finden. Ute Schaal (60) aus Kallenberg bei Althütte, einem 100 Einwohner zählendem Ort, kennt und schätzt das alltägliche Grüßen und Schwätzchen halten. „In einem Dorf ist das halt möglich“, sagt sie. Eine über 90-jährige Nachbarin von ihr sitze zum Beispiel jeden Tag vor ihrem Haus. „Die möchte den Kontakt“, erzählt Schaal. „Und die Kinder freuen sich, sie zu Grüßen.“

Einen großen Vorteil sehen die befragten Dorfbewohner alle in der sozialen Stütze, die man in einer kleinen Nachbarschaft erhalten kann. So können die beiden Mütter Martina Maier und Petra Massa jeweils berichten, dass es kein Problem sei, die Kinder einmal bei den Nachbarn unterzubringen oder gemeinsam auf die Kinder aufzupassen. „Meine Nachbarin und ich waren früher immer gemeinsam mit den Kindern draußen unterwegs“, erzählt Maier.

Die Nachbarschaft kann also als eine soziale Stütze dienen, zusätzlich zu der Familie und dem Sozialstaat. Unter anderem für ältere Menschen kann die Nachbarschaft auch zur konkreten Alltagshilfe werden, zumal die entsprechende Versorgung auf dem Land oft knapp ist. „Würde unsere ältere Nachbarin keine Familienangehörigen im Ort haben, würden wir uns um sie kümmern“, sagt Petra Massa.

Doch inwiefern ist die ländliche Nachbarschaft tatsächlich solidarischer als die städtische? Die Soziologin Katja Rackow resümiert in ihrer Studie 2014, dass die Bedeutung der Nachbarschaft auch auf dem Land schwindet. Das liege an den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, die nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land stattfinden würden. „Kleinere Familien, in denen mehr Personen Erwerbsarbeit nachgehen, längere Ausbildungszeiten bei einer gleichzeitigen besseren finanziellen Absicherung sowie eine gestiegene Mobilität verdrängen die engen sozialen Bindungen innerhalb der Nachbarschaft“, so Rackow. Die Gemeindegröße scheint dabei nicht ausschlaggebend dafür zu sein, ob sich jemand berufen fühlt, seine Nachbarn sozial zu unterstützen oder nicht. „Sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum geben gut ein Fünftel der Befragten an, ihre Nachbarn zu unterstützen.“

Die Nachbarschaft als soziale Stütze und Gemeinschaft ist daher nicht pauschal dem Landleben zuzuordnen. Es kommt vermutlich eher darauf an, wie hoch die eigene Motivation ist, auf die Nachbarn zuzugehen. Familie Massa und Familie Maier sind in ihren Heimatorten bereits durch ihre Verwandtschaft verwurzelt. Doch was ist mit Menschen, die von außerhalb in ein Dorf hinzuziehen? Das kann Helmut Herrmann (64) aus eigener Erfahrung berichten. Der Rentner zog 1986 nach Kallenberg. Er weiß, dass es schwierig sein kann, sich in die Dorfgemeinschaft zu integrieren. „Im ersten Jahr hatte ich zu fast niemandem Kontakt. Dann hat mich mein direkter Nachbar in den Nachbarschaftsverein mitgenommen“, sagt Herrmann. Der Verein, welcher sich Team Kallenberg nennt, organisiert nachbarschaftliche Aktionen, wie zum Beispiel Stammtische, Sonnenwendfeiern, Familienausflüge oder Weihnachtsfeiern. So konnte Herrmann schnell Kontakte knüpfen und war sogar jahrelang als Schriftführer des Vereins tätig. „Man muss es nur wollen, dann findet man Anschluss“, sagt er.

Und das ist vermutlich der entscheidende Punkt: Will man Teil einer Gemeinschaft sein, in der jeder über jeden Bescheid weiß? Es gibt Dinge, die man lieber für sich behalten würde, die aber in einem kleinem Ort zum Gesprächsthema werden könnten. Man könnte sich fragen: Was denken sich nur die Nachbarn? Martina Maier kennt diesen Gedanken, doch ihr sei es inzwischen egal. „Klar hat man mal über den Durst getrunken. Aber später ist es dann der andere“, sagt sie. „Man kennt sich ja. Wir sind doch alle keine Engel.“ Auf Instagram stimmten bei unserer Umfrage immerhin 55 Personen dafür ab, dass sie eine eher anonyme Nachbarschaft bevorzugen. Eine kleinere Nachbarschaft wird von 123 Usern bevorzugt. Tendenziell ziehen die meisten Teilnehmer unserer Umfrage somit eine dörfliche Nachbarschaft der städtischen Nachbarschaft vor, trotz geringerer Privatsphäre.

Dass sich für Familien und ältere Menschen viele Vorteile aus einer Dorfgemeinschaft ziehen lassen, lässt allerdings noch die Frage nach den jungen Erwachsenen offen. Weder Maier aus Allmersbach am Weinberg, noch den Kallenbergern Schaal und Herrmann und auch der Familie Massa aus Dauernberg – keinem fällt ein junger Nachbar ein, der aus dem Heimatort weggezogen ist und nicht mehr zurückkam. Die drei Kinder von Petra und Thorsten Massa, 4, 5 und 8 Jahre alt, sind sich ebenfalls einig. Auf die Frage, ob sie später einmal in der Stadt wohnen möchten, kommt eine klare Antwort: „Wir wollen in Dauernberg bleiben.“