„Ich hätte mich nicht wählen lassen“

Unterschiedliche FDP-Stimmen im Kreis zum Tabubruch in Thüringen – Wilhelm fordert, „die Wahl als Demokrat zu akzeptieren“

„Ich hätte mich nicht wählen lassen“

Symbolfoto: imago images /Christian Ohde

Von Peter Schwarz und Matthias Nothstein

BACKNANG. Die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen wird bei den Liberalen im Rems-Murr-Kreis extrem unterschiedlich bewertet. Von Zustimmung bis völliger Ablehnung reicht die Bandbreite. Und auch der genauso überraschende Blitz-Rückzug wird unterschiedlich bewertet.

Am Tag nach dem Tabubruch in Thüringen – Donnerstag um 9.09 Uhr – verschickte der FDP-Kreisvorsitzende Jochen Haußmann, gewohnt zuverlässig, sein von der Zeitung angefordertes Statement. Treu hielt er sich da noch an die Normalität vorgaukelnden Sprachschablonen, die Bundeschef Lindner und Landtagsfraktionsführer Rülke am Mittwoch vorgestanzt hatten: Der mit den Stimmen von CDU und AfD gekürte thüringische FDP-Ministerpräsident Kemmerich sei der „Kandidat der Mitte“; dass die AfD ihn und nicht den eigenen Bewerber wählen würde, „war nicht abzusehen“; es werde nun aber „keine Zusammenarbeit mit der AfD“ geben.

Gestern um 14 Uhr war all das bereits wieder Makulatur: Die Thüringer FDP-Fraktion stellte Antrag auf Landtagsauflösung, Kemmerich erklärte, er wolle sein Amt aufgeben, scharfer Kursschwenk Richtung Neuwahlen. Haußmanns morgendliche Einordnung – vermutlich hatte er als integrer Demokrat schon beim Schreiben grässliches Bauchweh – hatte sich offiziell erledigt. Aber im Grunde war sie schon in der Sekunde überholt, als er um 9.09 Uhr auf den „Mail senden“-Knopf drückte.

Denn die Vorstellung, dass ein unter derart empörenden Umständen ins Amt gehievter Ministerpräsident hinnehmbar sein könnte, war von Anfang an absurd, und das hatte einer, der in der FDP Ansehen genießt wie kaum ein Zweiter, bereits am Mittwochabend brutal klar herausgearbeitet: Von einem „schwarzen Tag für die deutsche Politik“ sprach der legendäre Ex-Minister Gerhart Baum; erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik habe sich ein deutscher Ministerpräsident wählen lassen „von einer Partei, die die Demokratie aktiv bekämpft“. Da „nützt es überhaupt nichts“, sich nachträglich rhetorisch abzugrenzen von der AfD. Kemmerich „hat mit dem Feuer gespielt – jetzt brennt die ganze FDP“.

Der Thüringer Skandal sendet Schockwellen bis in den Rems-Murr-Kreis. Da ist etwa Gudrun Wilhelm. Obwohl sie inzwischen fast als FDP-Urgestein gilt, möchte ein Teil der Liberalen im Landkreis ihr die Parteimitgliedschaft entziehen, das Verfahren vor dem Landesschiedsgericht läuft noch (wir berichteten). Aber trotz allen Ärgers erklärt die Kirchbergerin: „Ich bleib eine Liberale, egal, ob sie mich lieben oder nicht.“

Zu den Vorgängen in Thüringen hat die Gemeinderätin, Kreisrätin und ehemalige Regionalrätin eine klare Meinung: „Die Wahl von Kemmerich zum Ministerpräsidenten ist gelaufen. Ich würde als Demokrat die Wahl akzeptieren.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste Wilhelm noch nicht, dass Kemmerich nach 24 Stunden im Amt seinen Posten wieder abgibt. Vielmehr erteilte sie der Idee von Neuwahlen am Vormittag noch eine Abfuhr: „Viele rufen jetzt nach Neuwahlen. Aber wie oft soll man wählen lassen, bloß weil das aktuelle Ergebnis nicht zufriedenstellend ist? Ich finde, man sollte den gewählten Vertretern vertrauen und das Votum der Wähler akzeptieren.“

Der Vorwurf, dass Kemmerich von AfDs Gnaden im Amt ist, stört Wilhelm wenig. Vielmehr verweist sie darauf, einige AfD-Politiker zu kennen, mit denen sie seit Jugendtagen Kontakt hat. Mit diesen Menschen zu brechen, bloß weil sie sich vor Jahren der AfD zugewendet haben, ist für Wilhelm nicht nachvollziehbar. „Man kann sich ja in der Sache mit ihnen auseinandersetzen.“ Weiter ist sie der Auffassung: „Wenn es falsch wäre, mit ihnen zusammenzuarbeiten und dies der Demokratie schaden würde, dann hätte man die Partei verbieten müssen.“

Obwohl die FDP derzeit in der Defensive ist, geht Wilhelm in die Offensive über und kritisiert die Landeschefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, für deren Blumenstrauß-Affront. „Ich finde dieses Verhalten unsäglich.“ Dass der FDP-Mann Kemmerich dagegen ganz offensichtlich von Björn Höckes AfD mitgewählt wurde, bereitet ihr keine Probleme. Wilhelm: „Mir persönlich gefällt der Höcke auch nicht und ich hätte ihn auch nicht gewählt. Aber offensichtlich hat er den Menschen in Thüringen gefallen.“

Der kommissarische Vorsitzende des FDP-Ortsverbands Backnanger Bucht, Markus Wenzel, hatte vor dem mittäglichen Rücktritt noch gesagt, er gebe keine Stellungnahme ab – um dann anzufügen: „Ich hätte mich nicht wählen lassen.“ Wenige Minuten später war die Sachlage mit dem gestrigen Paukenschlag aus Thüringen eine andere. Nun erklärte der 48-Jährige: „Dass sich Thomas Kemmerich zur Wahl stellt und von unterschiedlichen Fraktionen dann letztendlich zum Ministerpräsidenten gewählt wird, ist für mich ein demokratischer Prozess. Darin ist nichts auszusetzen. Dass er sich als Ministerpräsident in seinen kommenden Entscheidungen von der AfD abhängig machen wollte, insbesondere von einer AfD des Herrn Höcke, war aber politisch unklug. Sicher hat er darauf gehofft, dass die SPD ihn unterstützen wird. Die Rechnung ging nicht auf.“ Laut Wenzel ist ferner die Größe der FDP-Fraktion für eine erfolgreiche Regierungsbildung schwierig. Wenzel bringt einen weiteren Gedanken mit ins Spiel: „Hätte Herr Kemmerich nach seiner Wahl auf das Amt des Ministerpräsidenten verzichtet und somit Neuwahlen den Weg freigemacht, gehe ich davon aus, dass die FDP mit einem Stimmengewinn bei Neuwahlen hätte rechnen können.“

Der Liberale aus Auenwald glaubt nicht, dass das Verhalten seiner thüringischen Parteifreunde Auswirkungen auf die örtliche FDP hat: „Aktuell gehe ich innerhalb der FDP im Kreis nicht von Austritten aus. Insbesondere nicht bei Mitgliedern, die schon länger dabei sind.“

„Ich hätte mich nicht wählen lassen“

Markus Wenzel

„Ich hätte mich nicht wählen lassen“

Gudrun Wilhelm

„Ich hätte mich nicht wählen lassen“

Jochen Haußmann